Wie Gottes Ja mir Leben schenkt

»Es macht die Wüste schön, dass sie irgendwo einen Brunnen birgt», sagt der Kleine Prinz in Antoine de Saint-Exupérys weltberühmter Erzählung. Es scheint sich also zu lohnen, die schrille, bunte Welt auch einmal aufzugeben. Fastenzeit – das ist eine Einladung, diese Leere auszuprobieren und darin etwas Neues zu entdecken. Unser Autor Andreas Knapp jedenfalls hat immer wieder die Wüste besucht und dabei entdeckt, dass uns dieser lebensfeindliche Ort auch zum Wesentlichen führen kann. Er verweist dabei auf die Erfahrung der biblischen Hagar, der ersten Frau, die Gott einen Namen gibt.

«Chum Aschermittwoch – und i ha scho Luscht uf Schoggi», seufzte die Kollegin in der Kaffeepause. «Das cha jo luschtig werde, die Faschteziit!» – Der Prophet Hosea sagt es ein wenig anders, doch auch ihm ist klar, dass sein Volk die Wüste nicht sonderlich gerne mag. Trotzdem lässt er Gott sprechen: «Ich habe dich in die Wüste geführt, um dir zu Herzen zu sprechen.» (Hos 2,16). Andere Übersetzungen sagen: «Ich will euch dort umwerben.» Ich finde das «zu Herzen sprechen» jedoch schöner. Wir hetzen von einem Termin zum nächsten, und es ist so selten, dass einem etwas zu Herzen geht. Die Chance dafür ist in der Wüste grösser.
»Ich wollte in die Stille gehen, um mich von den vielen Stimmen zu lösen, die mich innerlich antreiben und etwas von mir wollen», sagt Andreas Knapp. Deshalb hat der Mönch und Buchautor 40 Tage in einer Einsiedelei in der algerischen Wüste verbracht. «Ich suchte das einfache Dasein in der Nähe Gottes. In der Nähe dessen, der mich annimmt vor aller Leistung und trotz aller Schuld.» Und er zieht ein eindrückliches Resümee: «Ich fand die Schönheit einer grossartigen Landschaft, den Charme eines einfachen Lebens bei <Wasser und Brot> und eine Stille, in der ich Gottes grosszügige Liebe spüren konnte.»

Die Seele leeren
«Es geht darum, die Seele in der Aufmerksamkeit zu leeren, um die Gedanken der ewigen Weisheit einzulassen», sagt die Mystikerin Simone Weil. Sie weiss: «Die Gnade erfüllt, aber sie kann nur da eintreten, wo es eine Leere gibt, durch die sie empfangen werden kann.» Und Anselm Grün fügt hinzu: «Leere bedeutet für den spirituellen Weg, auf die Welt und ihre Güter zu verzichten. Nur wenn der Mensch die Welt nicht besitzen will, geht ihm ihre Schönheit auf.»
Dabei empfinden wir Leere oft als stressig und bedrohlich. Wir möchten nicht am Rand, sondern im Mittelpunkt stehen und gesehen und anerkannt werden. Dort, wo wir übersehen werden, erfahren wir eine Situation oft als kritisch. So ging es auch dem Philosophen Jean-Paul Sartre als Kind. Er fühlte sich als Schüler im Religionsunterricht für einen Aufsatz nicht genug gewürdigt, weil er dafür «nur» mit der Silbermedaille ausgezeichnet wurde. Bald darauf fühlte er sich unbehaglich beim Gedanken, dass Gott ihn anschaut: «Ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, es gäbe Ihn. Ich hatte mit Streichhölzern gespielt und einen kleinen Teppich versengt; ich war im Begriff, meine Untat zu vertuschen, als plötzlich Gott mich sah. Ich fühlte Seinen Blick; ich drehte mich im Badezimmer bald hierhin, bald dorthin, grauenhaft sichtbar, eine lebende Zielscheibe. Mich rettete meine Wut: Ich wurde furchtbar böse, ich fluchte. Gott sah mich seitdem nie wieder an.»
Das Gottesbild, mit dem Sartre auch seinen Glauben an Gott über Bord warf, war ein Spiegelbild einer Gesellschaft, in der «Gott» vor allem die Funktion eines Sittenwächters innehatte. Und wer wollte einen solch gnadenlosen Blick, dem man ständig ausgesetzt war, nicht loswerden?

Vom wahren Ansehen
In der Bibel macht die Sklavin Hagar eine ganz andere Erfahrung: Ihre Herrin schaut sie neidisch an. Abrahams Frau Sarai fürchtet nämlich ihre Magd als Nebenbuhlerin. Seit Hagar Abraham ein Kind geboren hat, verhält sie sich hochmütig. Daher will Sarai ihre Konkurrentin Hagar loswerden und behandelt sie derart hart, dass diese in die Wüste flüchtet. Hagar ist verzweifelt und dem Tod nahe. Im Buch Genesis heisst es: «Der Engel des HERRN fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste. Der Engel sprach zu ihr: Mehren, ja mehren werde ich deine Nachkommen, sodass man sie wegen ihrer Menge nicht mehr zählen kann. Siehe, du bist schwanger, du wirst einen Sohn gebären und du sollst ihm den Namen Ismael - Gott hört - geben, denn der HERR hat dich in deinem Leid gehört. Da nannte sie den Namen des HERRN, der zu ihr gesprochen hatte: Du bist El-Roï – Gott schaut auf mich. Denn sie sagte: Gewiss habe ich dem nachgeschaut, der auf mich schaut! Deswegen nennt man den Brunnen Beer-Lahai-Roï – Brunnen des Lebendigen, der auf mich schaut.» (Gen 16,7-14)

Der erste biblische Gottesname
Mitten in ihrer Wüste spürt Hagar eine neue innere Kraft. Sie entdeckt, dass sie in ihrer Einsamkeit nicht vergessen ist. Sie nennt Gott „denjenigen, der auf mich schaut“. Dies ist der erste Name, den Gott in der Bibel von Menschen – von einer Frau - erhält. Und dieser Name wird in Verbindung gebracht mit einem Brunnen: Die Ahnung, dass Gott sie liebevoll anschaut, wird zur Quelle neuer Lebensenergie.
Hagar kann nun anders heimkehren: Sie wird sich nämlich nicht einfach unterwerfen und alles aushalten. Vielmehr kehrt sie zurück mit einem neuen Selbstwertgefühl. Sie bezieht ihren Wert nicht mehr aus ihrem Nutzen, ihrer Arbeit oder aus ihrer Rolle als Mutter. Sie hängt nicht mehr am Tropf äusserer Anerkennung. Nun kann sie ihren Wert aus anderer Hinsicht beziehen: dass sie sich nämlich von Gott immerfort angeschaut und wertgeschätzt weiss. Diese innere Quelle gibt ihr Kraft, die schwierige Situation mit Sarai zu meistern. Der Brunnen, aus dem Hagar den Mut zu neuem Aufbruch empfängt, ist das Ansehen, das Gott ihr schenkt.

Der Brunnen – eine innere Quelle
Von Anfang an ist der Mensch ein Beziehungswesen und damit abhängig von der Anerkennung durch andere. Das Baby braucht die Erfahrung, von der Mutter angenommen zu sein, um zu sich selbst zu finden. Der Blick der Mutter bestätigt das Kind in seiner Existenz. Das Menschenkind will nicht nur selbst sehen, sondern auch gesehen werden. Der Blick der Eltern ist der erste Spiegel, in dem das Kind sich sieht. Das Kind weiss nun: Ich werde angeschaut – also existiere ich. Das Kind braucht den Glanz im Auge der Mutter. Und es will in diesem seinem Bedürfnis, dass es anerkannt werden will, bestätigt werden! Hier ereignet sich die Geburt des Individuums aus der Beziehung: Der Mensch wird am Du zum Ich, wie es der Philosoph Martin Buber ausgedrückt hat.
Gott hat mich stets vor Augen. Wer ich bin, wird mir bleibend zugesprochen. Es gilt zugleich, den immer lauernden Narzissmus zu überwinden, der in tödliche Einsamkeit führen kann. Das wusste bereits die griechische Mythologie: Narziss beugt sich über eine klare Quelle, sieht dort sein Ebenbild und verliebt sich in sich selbst. Er ist unfähig, sich fortzubewegen, und bleibt auf die Quelle fixiert, bis er an ungestillter Sehnsucht stirbt. Dem Narzissten dient der andere Mensch nur als Spiegel, in dem er einzig sich selber wahrnehmen will. Wenn man einem anderen Menschen tief in die Augen schaut, so sieht man dort in der Pupille ein kleines Püppchen (pupilla): sein eigenes Spiegelbild. Liebe aber will tiefer schauen.

Gottes grosses Ja
Nach biblischer Überzeugung gibt es diese Welt, weil Gott mit seinem guten Wort schöpferisch tätig ist: «Es gibt mich, weil Gott mich liebevoll beim Namen ruft.» Dieses fundamentale Angenommensein ist nicht von Erfolg oder Leistung abhängig. Es gilt grundsätzlich: «Ich habe dich in meine Hand geschrieben; du bist mein», heisst es beim Propheten Jesaja (Jes 49,16). Das heisst: Gott hat mich stets vor Augen. Wer ich bin, das muss ich mir nicht machen oder ständig neu erringen, sondern das wird mir bleibend zugesprochen. Es ist der Glanz im Auge Gottes, der mir Anerkennung und Identität schenkt.
Der christliche Glaube wurzelt in der Erfahrung, dass Gott sein ursprüngliches Ja in Jesus von Nazaret sichtbar, hörbar und greifbar zum Ausdruck gebracht hat. Denn dieser Mann aus Galiläa hat gerade Menschen, die von den anderen abgestempelt und ausgegrenzt waren, neues Ansehen geschenkt, indem er sie neu angesehen hat. Er begegnete dem Steuereintreiber, der Ausländerin und der Prostituierten mit einem wertschätzenden Blick. So wird Gott durch Jesus Christus «anschaulich».
Jesus Christus „ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat“, sagt Paulus im 2. Korintherbrief (2 Kor 1,20). Auf diesem Hintergrund könnte man den Johannesprolog so übertragen: «Im Anfang war das Ja und das Ja war bei Gott und Gott war das Ja. Alles, was geworden ist, wurde durch das Ja und nichts wurde ohne das Ja. Und dieses Ja ist Mensch geworden und hat unter uns gewohnt.»

Christliche Identität verdankt sich dem umfassenden Ja Gottes, das durch Jesus Christus geschenkt wird: «Ich bin von Gott bejaht und angenommen, so wie ich bin.» Dieses Ja Gottes geht über alles hinaus, was andere an mir bejahen können. Denn es umfasst auch das Verborgene und Widersprüchliche, das ich selbst nie ganz greifen kann. Eine solche von Gott geschenkte Identität kann mir selbst durch Misserfolg, durch Scheitern oder durch Brüche in meinem Leben nicht mehr genommen werden. «Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist», sagt Paulus im Römerbrief: keine Macht, nicht einmal der Tod. (Röm 8,39)
Wir müssen daher nicht mehr gnadenlos leben und uns von Angst getrieben selbst durchsetzen. Der Blick auf Jesus Christus offenbart uns: Als von Gott bejahte Menschen können wir andere bejahen. Im Glauben, von Gott Ansehen zu erhalten, können sich Menschen gegenseitig Achtung und Ansehen schenken. Unsere Sehnsucht nach innerer Heimat, nach Gesehenwerden und Gemeinschaft wird so zum Türöffner, der Menschen ahnen lässt, dass Gott unseren Durst nach Liebe stillen kann. Und der uns auch öffnet für die Begegnung mit unseren Mitmenschen.

Klaus Gasperi, Andreas Knapp, 29.02.2024


hagar am brunnen «el-roi»

(»der nach mir schaut»)


im hochmut habe ich
auf andere herabgeschaut
jetzt kann ich keinem mehr
unter die augen treten

niemandsland
bin ich geworden
mein leben verläuft
spurlos im sand

wie gern würde ich sehen
dass mich jemand gern sieht
mein auge hält ausschau
nach einem gesicht

dein blick trifft ins schwarze
pupillen tiefer als brunnen
schenken ansehen
unerschöpflich

(Andreas Knapp)


Lesung von Andreas Knapp
In seinem Tagebuch beschreibt Andreas Knapp den Zauber der Landschaft und seine spirituellen Erfahrungen in der Wüste. Andreas Knapp ist sehr erfolgreich als Autor von religiöser Lyrik, ausserdem ist er Mitglied der Ordensgemeinschaft der «Kleinen Brüder vom Evangelium».
Mi, 6.3., 19.30 Uhr, Pfarreizentrum St. Maria Schaffhausen


Buchtipp:
Andreas Knapp: «Lebensspuren im Sand.» Spirituelles Tagebuch aus der Wüste, Herder-Verlag, Freiburg.
 

Die Einöde, die Wüste – ein Ort, an dem Gott «zu unserem Herzen» spricht.
Quelle: invizbk, istockphoto
Die Einöde, die Wüste – ein Ort, an dem Gott «zu unserem Herzen» spricht.

 

 

Brunnen
Quelle: Flavijus, istockphoto
«Es gibt mich, weil Gott mich liebevoll beim Namen ruft.» Diese Gewissheit ist wie ein innerer Brunnen.

 

 

Mönch und Bestsellerautor Andreas Knapp
Quelle: Gerd Neuhold
Mönch und Bestsellerautor Andreas Knapp

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