Veröffentlichungen zum Thema «Missbrauch in der Kirche»

Die katholische Kirche der Schweiz ist schwer erschüttert. In den letzten Wochen häuften sich die Vorwürfe, dass Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) im Umgang mit Missbrauchsanzeigen Kirchenrecht missachtet hätten, in einem Fall sogar selbst Missbrauch begangen hätten. Der folgende Artikel möchte eine Übersicht über die Darstellungen und Reaktionen bieten, Zusammenhänge herstellen und so eine Einordnung ermöglichen. 

Am 17. August erscheint im Beobachter ein Artikel über eine junge Frau, die zwischen 1995 und 1998 als Minderjährige von einem nigerianischen Priester sexuell missbraucht worden war. Nach jahrelangem Schweigen wendet sich Denise Nussbaumer, so der fiktive Name im Artikel, 2019 schliesslich an die katholische Kirche. Die Genugtuungskommission der SBK anerkennt sie als Opfer, nicht so das Bistum Basel. Die vom Bistum eingeleitete kirchenrechtliche Voruntersuchung wird im Mai 2020 abgeschlossen. Bischof Felix Gmür kommt laut Bericht zum Schluss: «Die erhobenen Vorwürfe haben sich nicht bestätigt.» Obwohl bereits seit 2001 die kirchenrechtliche Vorgabe besteht, Missbrauchsfälle mit den Akten der Voruntersuchung an die Glaubenskongregation in Rom zu melden, unterlässt das Bistum diesen Schritt. Zudem wird dem Bistum vorgeworfen, das Tagebuch und die aktuellen Kontaktdaten der jungen Frau an den Priester weitergeleitet zu haben. Der Bericht endet mit der Feststellung, dass sich Bischof Gmür auch nach mehrfachem Nachfragen keiner Fehler bewusst gewesen sei und dass er dennoch die gesamten Akten zu dem Fall am 4. Juli nach Rom geschickt habe. 

Verfahrensfehler eingestanden
Einen Tag nach dieser Veröffentlichung gesteht das Bistum Basel in einer Stellungnahme «Fehler» ein. Es wird eingeräumt, dass die Gründe, die zur Einstellung der Voruntersuchung geführt hatten, unzureichend waren. Vor allem aber wird die Tatsache, dass keine rechtzeitige Meldung an Rom erfolgte, als Fehler anerkannt. Dass es nicht gelungen ist, die korrekten Schritte umzusetzen, bezeichnet das Bistum als ein «Scheitern, das nicht mehr vorkommen darf». Interessant ist, dass die widerrechtlichen Entscheidungen als «Verfahrensfehler» eingestuft werden. Auf die inkorrekte Weitergabe der persönlichen Daten der Betroffenen wird in der Stellungnahme nicht eingegangen. 
In einem späteren Interview wird dieser fragwürdige Umgang mit den Dokumenten als weiterer Verfahrensfehler deklariert. Als Bischof Felix Gmür anlässlich der Vorstellung des Berichtes zum Pilotprojekt der Universität Zürich (UZH) direkt auf einen möglichen Rücktritt angesprochen wird, antwortet er: «Weglaufen ist keine Lösung.»

Der Brief an den Nuntius
Am 10. September, zwei Tage vor der Pressekonferenz zum Pilotprojekt, macht der SonntagsBlick publik, dass Nicolas Betticher, ehemaliger Generalvikar des Bistums Lausanne Genf Freiburg (LGF), einen Brief an den Nuntius der Schweiz geschickt hat, in dem er Fälle von sexueller Belästigung und von Vertuschung benennt. Daraufhin habe der Vatikan Joseph Bonnemain, Bischof von Chur, mit einer internen Voruntersuchung beauftragt, so der Bericht des SonntagsBlicks. In nachfolgenden Veröffentlichungen wird deutlich, dass der besagte Brief bereits am 25. Mai verschickt und Bonnemain am 23. Juni als Sonderermittler eingesetzt wurde. 
Im SonntagsBlick wird weiter ausgeführt, dass Bettichers Brief auf Vorwürfe sexueller Belästigung aufmerksam macht, die drei Priester aus dem Bistum LGF und ein aktuelles Mitglied der SBK, das nicht benannt wird, belasten. Ausserdem wird darin fünf Schweizer Bischöfen vorgeworfen, Fälle sexuellen Missbrauchs vertuscht zu haben. Drei der beschuldigten Bischöfe sind noch im Amt. Es handelt sich um Jean-Marie Lovey, Bischof von Sitten, Charles Morerod, Bischof des Bistums LGF, und Alain de Raemy, Weihbischof des Bistums LGF. Lovey widerspricht dieser Darstellung, ein Sprecher von de Raemy verweist auf die laufenden Untersuchungen. 
Zudem soll ein ehemaliger Weihbischof Missbrauchsfälle im Kanton Waadt vertuscht haben. Auch dieser weist sämtliche Vorwürfe zurück. Schliesslich wird dem Schweizer Vatikan-Diplomaten Jean-Claude Périsset vorgeworfen, als Offizial von der Versetzung eines Missbrauchstäters Ende der 1980er-Jahre gewusst zu haben. Dieser verweist auf die Zuständigkeit der verantwortlichen Ordensleitung.

Rücktritt in Aussicht gestellt
Noch am gleichen Tag bestätigt die SBK in einer Medienmitteilung, dass eine kirchenrechtliche Voruntersuchung in die Wege geleitet wurde. Auf Anfrage von kath.ch antwortet die Kommunikationsverantwortliche des Bistums LGF einen Tag später, dass man die erhobenen Vorwürfe nicht kommentieren und sich nicht in die Arbeit der Aufklärung einmischen wolle. Sie fügt hinzu, dass darüber nachgedacht wird, «ob eines oder mehrere Mitglieder der Bischofskonferenz zurücktreten oder ihren Dienst suspendieren sollen». In einem Interview, das am 14. September in La Liberté erscheint, gesteht Bischof Morerod ein: «Wenn ich von meinem Amt zurücktreten müsste, wäre das für mich eine Befreiung.» Bischof Lovey sieht hingegen keinen Anlass zum Rücktritt. An einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen der Pilotstudie am 13. September stellt er klar: «Wenn Bonnemain mir Vertuschung nachweist, trete ich zurück.»
Ebenfalls am 13. September klärt sich auf, welchem Mitglied der SBK sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. In einer Medienmitteilung schreibt Jean Scarcella, Abt von Saint-Maurice, dass die Ermittlungen auch einen Vorwurf betreffen, der gegen ihn erhoben wird. Um die Unabhängigkeit der Ermittlungen zu gewährleisten, wolle er sein Amt bis zum Abschluss der Voruntersuchung ruhen lassen. Bischof Bonnemain erklärt in einem Interview, dass er sich in der Rolle des Sonderermittlers unwohl fühle: «Am liebsten hätte ich den Auftrag von Rom abgelehnt.»

Der Bericht zum Pilotprojekt
Am 12. September werden in einer breit angekündigten Pressekonferenz die Ergebnisse eines Pilotprojektes des Historischen Seminars der UZH veröffentlicht. Vor einem Jahr haben Wissenschaftler*innen mit der historischen Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche begonnen, indem sie unter anderem Archive gesichtet und Betroffene interviewt haben. Dabei stiessen sie auf 1'002 Missbrauchsfälle (siehe unten).
Es wird auch auf Versäumnisse bei der Meldung und Aufarbeitung von Missbrauchsfällen hingewiesen. Kardinal Kurt Koch, ehemaliger Bischof von Basel, soll in einem Fall seiner Meldepflicht bei staatlichen und kirchlichen Behörden nicht nachgekommen sein. Im Bistum St. Gallen soll der Priester E. M. jahrelang seiner Aufgabe nachgegangen sein, obwohl zahlreiche Beschwerden über ihn beim diözesanen Fachgremium eingegangen sind. Bischof Ivo Führer ignorierte laut Bericht die Empfehlung des Fachgremiums der SBK, bei der Glaubenskongregation Meldung zu erstatten. Sein Nachfolger Markus Büchel versetzte den Priester lediglich in ein Kloster, wo er bis 2023 weiterhin für gottesdienstliche Aushilfen zur Verfügung stand. 
Der Bericht kritisiert ausserdem, dass in vielen diözesanen Archiven Akten vernichtet worden seien.

Fünf Massnahmen 
Noch am selben Tag reagieren die Auftraggeberinnen des Pilotprojektes – SBK, RKZ und KOVOS – mit einer Medienmitteilung, in der sie fünf Massnahmen ankündigen. Dass es eine gesamtschweizerische unabhängige Meldestelle für Betroffene geben soll, dass Kleriker und Mitglieder von Ordensgemeinschaften in ihrer Ausbildung eine psychologische Abklärung durchlaufen sollen, dass in Bezug auf Personaldossiers Mindeststandards gemäss den geltenden Datenschutzgesetzen eingeführt werden sollen, dass sich die Auftraggeberinnen verpflichten, keine Akten mehr zu vernichten, und dass die geschichtliche Erforschung in einem dreijährigen Folgeprojekt 2024–2026 weitergeführt wird.
Am 13. September gesteht Bischof Markus Büchel Fehler im Umgang mit dem Priester E. M. ein. Auf einer Pressekonferenz legt er dar, dass er erstmals am 5. September 2023 vom Fall des Priesters E. M. Kenntnis erhalten und unmittelbar eine Voruntersuchung ausgelöst habe. Ob auch das Verhalten des Bischofs untersucht wird, ist unklar. 

Gmür wehrt sich gegen Vorwürfe
Am 17. September erhebt der SonntagsBlick weitere Vertuschungsvorwürfe – dieses Mal gegen Bischof Felix Gmür. Der Priester Thomas Pfeifroth (57) berichtet in diesem Artikel, dass er als 17-Jähriger von einem Priester missbraucht wurde, der seit 1992 im Bistum Basel arbeitet und bis heute Pfarrer von Röschenz ist. 2010 zeigte Pfeifroth laut Bericht die Tat im Bistum Basel an – in der Hoffnung, dass eine kirchenrechtliche Untersuchung eingeleitet und der Fall nach Rom gemeldet wird. Doch Bischof Gmür teilte ihm 2011 mit, dass er kein kirchenrechtliches Strafverfahren einleiten werde. Er berief sich dabei auf die Verjährung der Straftat. Auch die mögliche Aufhebung der Verjährung wollte Gmür laut Bericht nicht in Rom beantragen. Für Pfeifroth ist dies bis heute inakzeptabel. Er wirft Gmür vor, gegen das Kirchenrecht verstossen zu haben. 
In einer Gegendarstellung des Bistums wird darauf verwiesen, dass im Artikel des SonntagsBlicks Aussagen von Bischof Gmür unterschlagen wurden. Nach Klärung der Zuständigkeit seien sämtliche Akten von Bischof Felix Gmür an die Glaubenskongregation weitergeleitet worden. Damit habe er gemäss den kirchenrechtlichen Vorschriften gehandelt. Die Glaubenskongregation habe das Verfahren durchgeführt und abgeschlossen.

RKZ macht Druck 
Nach all diesen Veröffentlichungen, die das Ausmass sexuellen Missbrauchs in der Kirche und Tendenzen der Vertuschung aufzeigen, meldet sich die Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) am 19. September mit einer eigenen Position zu Wort. Ihr Generalsekretär, Urs Brosi, stellt im SRF Club Forderungen, die über die Vorschläge der SBK deutlich hinausgehen. Dem Sonderermittler Bischof Bonnemain soll eine externe Fachperson zur Seite gestellt werden, die mit ihm zusammen die Untersuchung leitet. Es soll eine unabhängige Meldestelle für Betroffene geben, die ausserhalb kirchlicher Räume liegt. Und die Einschränkungen zur Anstellung in der Kirche sollen aufgehoben werden. Künftig soll es auch kirchliche Mitarbeitende geben, die wiederverheiratet oder homosexuell sind oder im Konkubinat leben. Hinter der bisherigen Regelung stehe eine problematische Sexualmoral, begründet Brosi. Zudem übt er bei seinem Statement Druck auf die Bischöfe aus, indem er das Einbehalten von Geldern anmahnt, wenn sich zu wenig bewegen würde. 
Der Kirchenrat der katholischen Landeskirche Thurgau stellt sich hinter diese Forderungen und geht noch ein Stück weiter (siehe www.kath-tg.ch/missbrauch).

Detlef Kissner, forumKirche, 27.09.2023

Timeline
Quelle: A. Joseph/adur.design.ch
 

Resultate des Pilotprojektes der UZH
Seit den 1950er-Jahren wurden 1'002 Fälle mit 510 Beschuldigten und 921 Betroffenen identifiziert. 39% der Fälle betreffen Frauen, knapp 56% Männer, in 5% war das Geschlecht nicht feststellbar. Die Beschuldigten waren bis auf wenige Ausnahmen Männer. Von den ausgewerteten Akten zeugen 74% von Missbrauch an Minderjährigen (vom Säugling bis zum jungen Erwachsenen), 14% betreffen Erwachsene, in 12% war das Alter nicht klar. Die Fälle stellten nur «die Spitze des Eisberges» dar, so die Forschenden.
Die Auftraggeberinnen der Studie – SBK, RKZ und KOVOS – hatten vertraglich vollständige wissenschaftliche Unabhängigkeit, Forschungs- und Lehrfreiheit zugesichert, zu der auch die freie Einsicht in kirchliche Archive und Geheimarchive gehört. Diese wurde mit Ausnahme der Nuntiatur, der diplomatischen Vertretung des Papstes in der Schweiz, gewährt. Eine Anfrage für einen Archivzugang beim Dikasterium für die Glaubenslehre im Vatikan steht noch aus.
Die Forschung basiert auf einer ersten Sichtung der Archivdokumente und auf Interviews mit Betroffenen. Die Betroffenenorganisationen – IG-MikU und SAPEC – haben eine «zentrale Rolle» gespielt. 
Anhand von 13 Fallbeispielen wird gezeigt, wie sexueller Missbrauch in der Kirche möglich wird und wie Verantwortliche mit Vergehen umgehen: «Ignorieren, verschweigen und bagatellisieren» sei bis zur Jahrhundertwende ein Muster gewesen. Ab dem 21. Jahrhundert sei der Umgang «konsequenter». 

Veronika Jehle/Red.

Bischof Felix Gmür
Quelle: © Annalena Müller, kath.ch
Bischof Gmür verfolgt die Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie der UZH.

 

 

Bischof Bonnemain
Quelle: © Christoph Wider
Bischof Bonnemain, Mitglied des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe», äussert sich an der Pressekonferenz zur Pilotstudie.

 

 

Bischof Markus Büchel
Quelle: © Charles Martig, kath.ch
Bischof Büchel gesteht Fehler ein bei der kurzfristig einberufenen Pressekonferenz am 13. September (mit Pastoralamtsleiter Franz Kreissel und der Missbrauchsbetroffenen Vreni Peterer).

 

 

Jean-Marie Lovey
Quelle: © Jacqueline Straub, kath.ch
Bischof Lovey auf dem Weg zur Pressekonferenz am 13. September.

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