Psalm 22 und die Passionserzählungen

«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?», das sind die letzten Worte Jesu am Kreuz. Wenn man sie nicht als Beginn des Psalms 22 erkennt, kann man den Eindruck gewinnen, dass der Gekreuzigte sich als von Gott Verworfener erfahren hat. Der Neutestamentler Prof. em. Dr. Walter Kirchschläger zeigt auf, welche Rolle dieser Psalm in den Passionserzählungen spielt.

Der Psalm 22 hat zwei Gesichter…

Ja, in ihm zeigt sich eine grosse Spannung. Der Psalm 22 ist einer von mehreren Klagepsalmen, in denen der Mensch sein Leid vor Gott bringt. Dies geschieht in zwei Stufen: Zunächst breitet die betende Person ihr ganzes Leid vor Gott aus, dann formuliert sie ihre Zuversicht, dass Gott helfen kann. 
Der Psalm 22 beginnt seine Klage mit dem bekannte Ausruf «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?». Diese Klage wird anschaulich und bildreich vorgetragen und endet in Vers 22. Mit einer Bitte um den Rückhalt Gottes deutet sich in Vers 20 bereits die Wende an: «Du aber Herr halte dich nicht fern», die sich in Vers 23 vollständig vollzieht: «Ich will deinen Namen meinen Schwestern und Brüdern verkünden…». In den nachfolgenden Versen wird das Vertrauen zu Gott wieder aufgebaut. Der Psalm endet mit der Erfahrung, dass Gott den Betenden gerettet hat: «Ja, er hat es getan» (V 33). 

Wie lassen sich diese beiden Pole zusammenbringen?

Das ist ein Problem, das uns mindestens seit der Zeit der Kirchenväter begleitet. Wir haben in der kirchlichen Verkündigung immer den ersten Teil des Psalms gelesen - die furchtbare Darlegung der Klage. Dabei ging die entscheidende Wende zum Vertrauen auf Gott hin vergessen. Wir waren nicht bereit, uns dieser Spannung auszusetzen. 
Dieses Dilemma spiegelt sich auch in der Passions- und Osterverkündigung wider. In der ganzen christlichen Geschichte haben wir Mühe damit, den Tod Jesu als Weg zur Auferstehung zu akzeptieren. Wir hoffen darauf, dass Gott uns von vornherein vor der Not bewahrt, und nicht, dass er uns aus der Not errettet. 

Woran liegt das?

Das hat letztlich mit dem Gottesbild zu tun: Haben wir eine antik geprägte, hellenistische Vorstellung von Gott, bei der die Gottheit so viel wert ist, wie sie uns vor der Not beschützt? Oder glauben wir an einen Gott, der zwar das Leid zulässt, den Tod nicht abgeschafft hat, aber den Weg über den Tod hinaus aufzeigt, exemplarisch in der Auferstehung Jesu von Nazareth? Die biblische Botschaft vertritt eindeutig das zweite Gottesbild. 

Dieses Bild fordert Glaubende heraus…

Ja, am schönsten hat es Paulus in 1 Kor1 beschrieben: «Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber… Gottes Kraft und Gottes Weisheit.» Da trifft er den Kern. Er sagt auch, dass dies ein Mysterion sei, etwas, was der Mensch nicht entschlüsseln kann.

Der Tod Jesu ist also Teil der Erlösung?

Ja, Lukas lässt den Begleiter der zwei Emmausjünger sagen: «Musste nicht der Christus das alles erleiden und so in seine Herrlichkeit eingehen» (Lk 24,26). Dieses «Muss» ist der nächste Stolperstein. Es kommt schon in den Leidensankündigungen vor: «Der Menschensohn muss… verworfen werden; er muss getötet werden und nach drei Tagen muss er auferstehen.» (Mk 8,31). Das lesen wir in unseren Übersetzungen so nicht mit. Wir tun uns schwer damit. Wir blenden es in der Theologie aus, im Lehramt und in der Osterverkündigung. Ich habe den Verdacht, dass wir die christliche Botschaft verwässern. 

In den Passionserzählungen finden sich immer wieder Verweise auf das Alte Testament. Welche Bedeutung hat dies?

Die frühe Kirche muss für das einzigartige Schicksal Jesu, für das es keine Vorbilder gibt, einen Deutungshorizont entwickeln. Sie geht dafür zurück auf die jüdischen Schriften. In den Gottesknechtsliedern (Jes 42ff) und in den Psalmen findet sie vorgezeichnet, was sich in Jesus erfüllt. Schon die vormarkinischen Passionsgeschichte ist stark von den Gottesknechtsliedern und den Psalmen geprägt.

Welche Rolle spielt dabei der Psalm 22?

Es gibt zahlreiche Anspielungen auf den Psalm. Dazu gehören das Teilen des Gewandes durch Losentscheid (Ps 22,19 und Mk 15,24), der massive Hinweis der Verspottung des Gekreuzigten und der Aufforderung, sich von Gott helfen zu lassen (Ps 22,8f und Mk 15,29f). Der Hinweis, dass Jesus Essig zu trinken gegeben wird (Mk 15,36), erinnert an den Vers: «Die Zunge klebt mir am Gaumen» (Ps 22,16).
Der deutlichste Bezug zum Psalm ist der Ausruf: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Ps 22,2 und Mk 15,34). Es ist das letzte Wort Jesu am Kreuz. Matthäus übernimmt diesen Satz. Lukas stützt sich auf die Passion von Markus, tauscht aber das letzte Wort Jesu durch ein anderes Psalmzitat aus: «Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist» (Ps 31,6). Das klingt frommer, weniger anstössig.

Zeigt sich in diesem Aufschrei Jesu seine Verlassenheit?

Ich bin sehr skeptisch, dass darin die Todesverlassenheit Jesu zum Ausdruck kommt. Das hat zwei Gründe. Wenn ein biblischer Verfasser einen biblischen Text zitiert, dann zitiert er ihn nach den Anfangsversen. Wir reden ja auch vom «Vater unser» und meinen damit das ganze Gebet. Markus möchte also damit sagen, dass der sterbende Jesus am Kreuz den ganzen Psalm gebetet hat, dass er es zumindest versucht hat, stammelnd und in Gedanken.
Die Sichtweise, dass sich in den letzten Worten Jesu seine Gottverlassenheit zeige, würde zweitens nicht zu Jesu Gebet am Ölberg passen. Dort lässt Markus Jesus sagen: «Nicht mein Wille geschehe, sondern deiner». Wenn er Jesus als Vorbildfigur darstellen möchte, kann er nicht ein Kapitel später sagen, dass dieser verzweifelt am Kreuz gestorben ist. Damit wäre seine Geschichte nicht schlüssig. 
Markus möchte uns sagen, dass Jesus in tiefster Weise in das Todesleid hineingekommen ist. Er drückt das mit dem intensivsten Psalm aus, den er dazu in der Bibel findet, den Psalm 22.

Damit hält Markus die im Psalm angelegte Spannung aufrecht…

Ja. Der Weg Jesu in den Tod ist keine Kleinigkeit, er geht bis ans Äusserste. Aber Jesus weiss immer noch, dass da einer ist, der ihn hält. Die vorbildhafte Dimension der Passionsgeschichte besteht nicht darin, dass wir nicht sterben werden, dass für uns der Tod eine Kleinigkeit ist, sondern darin, dass wir darauf vertrauen können, dass Gott uns selbst im tiefsten Leid nahe ist. Dafür steht der Psalm 22. Er endet nicht in der Klage, sondern versucht in den letzten zehn Versen das Vertrauen auf Gott auszudrücken. 

Detlef Kissner, forumKirche, 16.3.21
 

Jesus stirbt am Kreuz (Glasfenster im Strassburger Münster)
Quelle: Detlef Kissner
Jesus stirbt am Kreuz (Glasfenster im Strassburger Münster)

 

 

 

Prof. em. Dr. Walter Kirchschläger
Quelle: © Universität Luzern
Prof. em. Dr. Walter Kirchschläger

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