Gedanken zum Thema Verzeihen

Vergebung ist im Christen- wie im Judentum wichtig. Die Bibel macht dies immer wieder deutlich. Doch was bedeutet Vergeben? Wie kann es gelingen?

«Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern», heisst es im «Vater Unser». Gott verzeiht, wenn auch wir verzeihen. Das Verzeihen ist ein Geschenk des Opfers. Täter*innen können nur um Verzeihung bitten. Es gibt kein Recht auf Gewährung. Der Wille zu verzeihen bedeutet dabei nicht, dass die Betroffenen dies immer können, denn Verzeihen geschieht emotional «von Herzen». Das ist oft ein langer Prozess.
Vergebung ist für Opfer heilsam. Es bedeutet, die Tat nicht länger das eigene Leben bestimmen zu lassen. Sich nicht länger die Energie davon rauben zu lassen. Nicht mehr zuzulassen, dass die Verbitterung mir und anderen schadet. Vergeben kann auch ausschliesslich vonseiten des Opfers geschehen, das nicht länger in dieser Rolle leben möchte, also auch ohne die Bitte um Vergebung. Manchmal kann man lange nicht oder nur punktuell vergeben. Oft braucht es für diesen anstrengenden Prozess professionelle psychologische Hilfe, und es ist ein Zeichen der Stärke, sie sich zu holen. Denn wer vergibt, muss sich die Tat, deren Folgen und die eigenen Emotionen bewusst machen. Dies ist oft schmerzhaft. Sie*Er muss den Hintergrund des Täters bzw. der Täterin sehen. Was ist wie und warum geschehen? Was macht es mit den Betroffenen? Vielleicht bedeutet es auch, gerichtlich Recht einzufordern. Danach kann man - mehr oder weniger - loslassen. 

Um Vergebung bitten
Täter*innen sollen die Verletzten um Vergebung bitten, das fordern die Religionen. Sie sollen zu ihrer Verantwortung, ihrer Tat und deren Folgen stehen und diese bereuen. Auch dies ist ein Prozess. Danach muss man seine Reue den Verletzten gegenüber zum Ausdruck bringen und zeigen, dass man den zugefügten Schaden aus deren Blickwinkel versteht. Die Person muss glaubwürdig auch die Gründe für ihr Verhalten darlegen und warum sie nicht mehr so handeln wird. Dazu kommt, Wiedergutmachung anzubieten, soweit dies möglich ist. Dies ist ebenfalls ein anspruchsvoller und oft schmerzhafter Prozess. Bei der Vergebung kann es vonseiten der Verletzten wie auch der Täter*innen zu Missverständnissen kommen, die den Prozess behindern. 
Oft wird erwartet, dass Vergebung Vergessen bedeutet. Dies ist nicht der Fall. In Paris steht im Mémorial für die ermordeten Französinnen und Franzosen in den deutschen KZs: «Lasst uns vergeben, aber niemals vergessen». Der Priester Virgil Elizondo sagte: «Plötzlich wurde mir klar, dass die wirkliche Tugend der Vergebung genau dann offenbar wird, wenn ein Mensch sich auch erinnert. Wenn ich aber vergessen könnte, müsste ich erst gar nicht vergeben.» Vergeben heisst gerade, sich zu erinnern, um verarbeiten zu können. 

Ungerechtigkeiten bekämpfen
Vergeben bedeutet entgegen der Redewendung nicht, alles zu verstehen. Manches bleibt unverständlich. Es bedeutet auch nicht, eine Tat zu entschuldigen. Denn dann wären die Täter*innen ja nicht verantwortlich für ihre Taten. Vergebung muss Ungerechtigkeit bekämpfen, sonst ist sie kein Zeichen von Kraft und Toleranz, sondern würde zur Fortsetzung des Vergehens ermutigen. Sie liefert dann andere Opfer dem Missbrauch, der Gewalt in Systemen etc. aus. Die Liebe glaubt nicht alles, hofft, aber duldet nicht alles. Liebe, die alles duldet, gibt die Menschenwürde auf!
Vergeben ist kein Straferlass. Was Gerichte Täter*innen erlassen, ist die Strafe für den Gesetzesverstoss. Verzeihen betrifft aber persönlich zugefügte Verletzungen und keinen Verstoss gegen ein Gesetz. Strafe gehört zum Bereich Gerechtigkeit, die durchaus das Vergeben erleichtern kann. Vergeben meint nicht, dass man auf eine juristische Aufarbeitung der Tat verzichtet! Die Einführung von Gerichten gehört zu den sieben Noachidischen Geboten, die im Judentum für alle Menschen gelten; im Christentum ist die Anrufung weltlicher Gerichte eher negativ besetzt.

Vergebung und Versöhnung
Vergebung meint nicht zwingend Versöhnung: Man kann jemandem verzeihen, möchte ihm aber aus Selbstschutz nicht mehr begegnen. Versöhnung ist dagegen die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Opfern und Täter*innen.
Vergebung heisst, sich dem Schmerz zu stellen, auch um zu verhindern, dass dieser einen selbst schädigt oder auf andere übertragen wird (transgenerationale Weitergabe von Traumata, von seelischen Erkrankungen etc.). Das ist Stärke und Kompetenz. Gott hat uns versprochen, dabei an unserer Seite zu stehen.

Christiane Faschon, 02.11.2022
 

Inschrift
Quelle: Ardfern/Wikimedia Commons
Inschrift im Mémorial des Martyrs de la Déportation von Paris: «Vergib, vergiss nicht …»

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