Ein Selbsterfahrungs-Projekt spürt dem Leben der Inklusin nach

Am 2. Mai ist der Gedenktag der heiligen Wiborada (siehe Kasten). Ihr zu Ehren hat ein ökumenisches Projektteam die Aktion «Wiborada 2021» gestartet und Freiwillige gesucht, die sich im Mai und Juni des nächsten Jahres für eine Woche in einer nachgebauten Zelle in St. Gallen einschliessen lassen. Nun ist der Bewerbungsprozess abgeschlossen. Im Interview erklärt die Initiantin Hildegard Aepli, wer sich warum beworben hat und welche Chancen das Projekt birgt.

 

Wie ist die Idee zum Projekt zustande gekommen?

Im letzten Jahr nahm ich an der Tagung «100 Jahre Silja Walter» im Lasalle-Haus teil. Dort meinte eine Bekannte zu mir, dass es schön gewesen wäre, wenn Silja Walter, die zu ihren Lebzeiten unter anderem Mysterienspiele über mehrere Heilige verfasst hatte, auch über Wiborada etwas geschrieben hätte. Dieser Gedanke beschäftigte mich nachhaltig. Ich fand, dass heute nur jemand über Wiborada schreiben könne, der sich zuvor hat einschliessen lassen, um damit die letzten zehn Lebensjahre der Heiligen nachzuempfinden. Dazu müsste natürlich eine solche Zelle auch an historischer Stelle platziert werden, also an der Kirche St. Mangen, wo sich Wiborada im Jahr 916 in eine angebaute Klause einmauern liess. So entwickelte sich die Idee weiter zu einem spannenden, spirituellen Projekt für Menschen von heute.

Wie soll diese nachgebaute Zelle aussehen?

Die Zelle aus Holz wird in diesem Winter an der Aussenfassade der Kirche St. Mangen angebaut, auf Höhe des sich in der Kirche befindenden Erinnerungsfensters an Wiborada. Ein zweites Fenster nach aussen wird für die Bevölkerung geöffnet, damit sie – wie damals die aufsuchenden Menschen die Inklusin an ihrem Fenster um Rat fragten – mit den Eingeschlossenen ins Gespräch kommen können. Die Zelle, die durch Spenden finanziert werden soll, wird so gross sein, dass eine WC-Kabine darin Platz findet, ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl. Sie soll diesen Winter gebaut werden, damit sie im April des nächsten Jahres bereitsteht.

Bis zum Ende der Frist am 31. März sind zwölf Bewerbungen bei Ihnen eingetroffen. Wer hat sich als Eingeschlossene oder Eingeschlossener beworben?

Es haben sich zwölf Bewerber*innen aus den Kantonen St. Gallen und Zug im Alter zwischen 30 und 86 Jahren beworben. Insgesamt sind es vier Männer und acht Frauen, darunter zwei reformierte Pfarrerinnen. Die anderen zehn Interessierten sind Katholiken, beispielsweise ein Priester, ein Kunstmaler, ein Verlagsleiter, eine Sozialarbeiterin oder eine pensionierte Psychiatrieschwester.

Was haben die Bewerber für unterschiedliche Beweggründe angegeben?

Für einige steht die persönliche Erfahrung im Umgang mit Stille im Vordergrund, aber auch die Möglichkeit, in dieser Stille Gott, ohne Ablenkung und ohne ausweichen zu können, zu begegnen und die Frage, wie er sie auf diesem Weg begleitet. Andere reizt die Ahnung des Ausgeliefertseins bei dem Gedanken, die Zelle nicht verlassen zu können und manche erhoffen sich gestärkt und zuversichtlich aus dieser Erfahrung zu kommen, weil sie sich durch die gleichzeitige Kontemplation und Meditation anderer Menschen getragen fühlen.

Wer wird nun nach welchen Kriterien auswählt?

Ich kann mir alle zwölf Bewerber*innen als Inklusen*innen vorstellen. Das Projekt sieht vor, dass im Mai und im Juni 2021 jede Woche jeweils eine Person in der Zelle lebt. Der Zeitraum umfasst insgesamt neun Wochen und ich gehe davon aus, dass wir im April noch zwei Wochen anhängen können, somit würden sicher elf Bewerber berücksichtigt. 

Wie werden am Schluss die gemachten Erfahrungen ausgewertet?

Das ist noch nicht festgelegt. Die Teilnehmer*innen sind gefragt worden, ob sie bereit wären, über ihre Erfahrungen Auskunft zu geben. In welcher Form das geschieht, muss noch mit den Bewerbern erarbeitet werden.

Auf dem Bewerbungsbogen musste man auch angeben, wie es um die eigene gesundheitliche Verfassung steht. Kann man so genau voraussagen, wie psychisch stabil man wirklich ist und auf eine solche Situation reagiert?

Die Frage bezog sich auf den normalen Alltagszustand, also ob eine Person aktuell beispielsweise Medikamente nimmt, ist für mich ein wichtiger Punkt, der im Vorfeld abgeklärt werden muss. Wenn jemand während der Woche nicht mit der Situation zurechtkommt, muss er oder sie abbrechen.

Stehen die Bewerber denn während der Woche unter ständiger Beobachtung?

Die Menschen werden geistlich begleitet. Ich selbst werde die Eingeschlossenen täglich besuchen und im Gespräch mit ihnen feststellen, wie es ihnen geht.

Wie muss man sich die Tagesstruktur vorstellen?

Die Eingeschlossenen werden dreimal am Tag verpflegt. Zusätzlich zu meinem Besuch wird voraussichtlich zweimal täglich für je eine Stunde das Fenster geöffnet, damit Menschen von aussen mit den Eingeschlossenen reden können. Sonst haben sie keine Kontakte in dieser Woche, sie nehmen auch weder Computer noch Handy mit in die Zelle.

Viele machen in der Corona-Krise unfreiwillig Erfahrungen mit dem Eingeschlossen-Sein. Das wirft nochmal ein anderes Licht auf das Projekt, oder?

Das stimmt. Es ist eine sehr spannende Gleichzeitigkeit, dass das Thema durch diese Krise jetzt so in unsere Gesellschaft hineinspricht. Viele Menschen machen sich jetzt, dadurch, dass sie auf ihr Zuhause und auf sich zurückgeworfen sind, Gedanken darüber, was die Ruhe und teilweise auch Einsamkeit mit ihnen macht. Das eröffnet einen breiten Erfahrungsraum und ist eine spannende Vorlage für das Projekt.

Die Chance im Eingeschlossensein liegt also auch darin, sich wieder auf andere Werte zu besinnen?

Ja. Ich finde es sehr eindrücklich, wie radikal Wiborada ihre Gottverbundenheit gelebt hat. Sie war innerlich genährt durch das Gebet und hat in der Beziehung zu Gott alles gefunden. Dem hat sie sich ausschliesslich gewidmet – nichts Anderes war ihr wichtiger. Das ist ein Anstoss, wieder vermehrt über den Sinn des Lebens nachzudenken. Wo erfahre ich mich als Eingeschlossene*r und wie beurteile ich das, wie bewege ich mich darin? Ist das ein Schutzraum, in dem sich etwas entfaltet und in mir wächst oder eine Notwendigkeit, weil ich merke, ich brauche die Zurückgezogenheit, um mit mir selber überhaupt in einen tieferen Kontakt zu kommen? Wie stosse ich auf das Göttliche in mir, wie pflege ich das? Das Projekt stellt viele Fragen, die uns auch heute bewegen.

Hoffen Sie, dass durch das Projekt auch die Figur der Wiborada wieder mehr ins Bewusstsein gerückt wird?

Das hoffe ich sehr. Wiborada führte ein unglaublich bedeutsames religiöses Leben, doch weil sie eine Frau war, ist ihre Geschichte weniger bekannt und sie steht, im Unterschied zu den St. Galler Heiligen Gallus oder Otmar, unverdient im Hintergrund.

Das Vorbereitungstreffen am 4. Mai wird verschoben. Das Projekt startet im nächsten Jahr.
Weitere Infos:
www.heilige-wiborada.ch

Sarah Stutte (22.4.20)

Teaserbild: © Det Blumberg


Wiborada

Wiborada (lateinische Form von Weiberat) stammte Quellen zufolge aus einer Adelsfamilie in der näheren Umgebung von Märstetten-Wigoltingen. Ab 912 lebte sie, zusammen mit zwei Mägden, in einem Häuschen in der Nähe der Kirche St. Georgen in strengster Askese. Diese Probezeit war ihr vom Abt des Klosters St. Gallen vorgeschrieben worden, bevor sie sich 916 vom Konstanzer Bischof – nun als sogenannte Inklusin (Eingemauerte) – in der Zelle an der Kirche St. Mangen auf Lebenszeit einschliessen liess. Hier wurde sie, durch ihre Prophezeiungen, zur Ratgeberin für Klerus, Adel und Volk. Im Jahr 926 wurde Wiborada durch die einfallenden Ungarn ermordet. Als erste Frau wurde Wiborada 1047 im offiziellen römischen Verfahren von Papst Clemens II. heilig gesprochen. (sas)

Wiborada 1
In der Kathedrale St. Gallen ist bis auf Weiteres die neugeschaffene Wiborada-Skulptur
des Künstlers Det Blumberg zu sehen. Sie war ursprünglich für die dort zwischen Karfreitag und Pfingsten hätte stattfindende Ausstellung «Wiborada und die Himmlischen Weibsbilder» vorgesehen, die aufgrund der Corona-Krise verschoben werden musste.  © Det Blumberg

Wiborada-Skulptur in der Kathedrale St. Gallen (alle Bilder © Det Blumberg)

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