Stand der Forschung zu Papst Pius XII.

Vor etwa einem Jahr öffnete der Vatikan seine Archive (forumKirche 4/20, 6/20). Am 2. März 2020 durfte das Team um den renommierten deutschen Kirchenhistoriker Hubert Wolf als eines der ersten das neu zugängliche Material zum umstrittenen Papst Pius XII. sichten – bis Corona die Suche unfreiwillig beendete. In der SRF2- Kultursendung Perspektiven hat er kürzlich berichtet, was er dennoch im ersten Jahr Forschung herausfinden konnte.

Trotz der Schliessung der Archive gab es in den ersten Tagen der Suche einen grossen Fund. Hubert Wolf stiess auf fast 20'000 Bittschriften jüdischer Menschen an den Papst. «Natürlich wussten wir, dass sich auch einzelne Menschen an Papst Pius XII. gewendet haben, dass es so viele sind, hat uns jedoch wirklich überrascht», so der Historiker. Er fügt hinzu: «Diese Bittschriften bringen Menschen, deren Gedächtnis die Nazis auslöschen wollten, wieder in den Blick, geben ihnen ein Gesicht und eine Stimme. Die Schriftstücke sind in allen Sprachen verfasst und beschreiben, oft unmittelbar bevor diese Menschen deportiert und umgebracht werden, was sie konkret an Hilfe benötigen». Diesen Schicksalen nachzugehen, eröffne auch die Chance, heute vielleicht noch die Nachfahren dieser Menschen ausfindig zu machen, um ihnen die Briefe ihrer Angehörigen zeigen zu können. «Das wäre mein grosser Wunsch, jenseits der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Ich glaube, dass das Thema für die politische Bildung und die Antisemitismus-Erziehung zentral ist», sagt der Professor der Universität Münster.

Schicksalen nachgehen

In der Folge las der Historiker einen der Briefe vor, die ein 20-jähriger Theologiestudent namens Martin Wachskerz 1942 an den Papst verfasste. Er schreibt darin, dass das gemeinsame Gesuch der Familie um eine Zuflucht in der Schweiz abgelehnt wurde und bittet «aus höchster Not und Verzweiflung » darum, dass der Papst bei der Schweizer Fremdenpolizei in Bern interveniere. «Eure Hochwürden können vier Menschenleben retten. Retten Sie uns. Haben Sie Erbarmen ». Tatsächlich habe der päpstliche Botschafter in der Schweiz das Gespräch gesucht – jedoch erfolglos, ein Visum wird der Familie verwehrt. Was danach mit ihr geschieht, will Wolf nun erforschen. Die Bittschriften geben auch Aufschluss darüber, wie der Vatikan mit der Verfolgung der Jüdinnen und Juden umging. «Es gibt Fälle, für die sich Pius XII. selbst eingesetzt hat und eine Auswanderung in die Wege leiten konnte. Es gibt aber auch Bittschriften, von denen wir nicht wissen, ob sie überhaupt weitergereicht wurden. Diese Fälle müssen wir präzise durcharbeiten, denn daraus werden wir lernen, wie die Kurie funktioniert», meint Hubert Wolf. Zentral sei dabei, wer dem Papst den Stand einer bestimmten Frage vorbereitete. «Es gab in der Kurie dezidierte Antisemiten, aber auch dezidierte Judenfreunde.» Somit widerspiegle der Vatikan die ganze Bandbreite der römischkatholischen Kirche.
Diese Entscheidungswege nachzuvollziehen, würde Jahre benötigen. Darauf möchte sich der Historiker aber erst konzentrieren, nachdem er die Schicksale der Opfer untersucht hat. «Ich wollte nach Rom, um eine Papstgeschichte zu schreiben und bin zurückgekommen, um eine Opfergeschichte zu schreiben. Die Bedeutung des Papstes hat sich also angesichts der Opfer für mich relativiert», sagt er.

Sarah Stutte, forumKirche, 16.3.21


Die Sendung «Was gibt's Neues zum Weltkriegspapst Pius XII.?» kann als Podcast unter www.srf.ch/audio/Perspektiven nachgehört werden.
 

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Prof. Dr. Hubert Wolf
Quelle: © Catrin Moritz
Prof. Dr. Hubert Wolf

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