Einschätzungen zur Vision «dual kongruent»

Robert Weinbuch (62) durfte in den letzten Jahren wertvolle Erfahrungen bei der Zusammenführung von Pfarreien sammeln. Seit Oktober leitet er den neuen Pastoralraum Am See und Rhy, zuvor war er für den Pastoralraum Am Mutschellen (AG) verantwortlich. In seiner Einschätzung zur Vision «dual kongruent» (vgl. Kasten) hebt er hervor, dass es in ländlichen Gebieten besser ist, theologisches Personal dezentral einzusetzen. 

Was braucht eine Pfarrei an hauptamtlicher Unterstützung, dass sie als christliche Gemeinschaft lebensfähig bleibt?
Es kommt auf das Pfarreikonzept an. Wenn man sagt, der Hauptamtliche soll die Pfarrei versorgen, soll also praktisch in Liturgie, Diakonie und Verkündigung alles selbst machen, dann braucht es Hauptamtliche mit den entsprechenden Kompetenzen. In unseren Pfarreien gibt es aber ganz viele hervorragend ausgebildete Menschen – z. B. Spielgruppenleiter*innen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen -, die für unsere Aufgaben sehr viele Kompetenzen mitbringen. Wenn man ein Pfarreikonzept hat, das auf Partizipation setzt, dann braucht es eher kommunikative und soziale Kompetenzen, Beziehungsfähigkeit und Begeisterungsfähigkeit, um Menschen begleiten zu können.

Wie viel Leitung braucht es vor Ort? Welche Entscheidungen sollten vor Ort getroffen werden?
Ideal wäre es, wenn die Leitung einer Pfarrei subsidiär einspringt. Als bei uns z. B. eine Katechetin ausgefallen ist, habe ich als Überbrückung auch selbst unterrichtet. Das ist wichtig, damit die Menschen vor Ort sehen: Da ist noch jemand, der aushilft, wenn es gar nicht mehr geht. Das sollte immer mit dem Ziel erfolgen, dass möglichst viel von den Menschen selbst entschieden und gestaltet wird.
Für die Seelsorgenden vor Ort gilt: so viel Leitung wie nötig und so wenig Leitung wie möglich. Das Bistum Basel gibt einen Rahmen vor, in dem ganz viel möglich ist. Das müsste auf die Ebene der Pastoralräume und Pfarreien übertragen werden. 

Welche Bedeutung haben heute sonntägliche Gottesdienste für eine Pfarrei?
Es gibt Pfarreiangehörige, denen der sonntägliche Gottesdienst in ihrer Pfarrei wahnsinnig wichtig ist, weil er ihnen Kraft und Mut gibt, die aus verschiedenen Gründen aber nicht bereit sind, dafür in eine andere Pfarrei zu fahren. Anderen ist eine Eucharistiefeier sehr wichtig. Sie können keine anderen Gottesdienstformen akzeptieren. Und dann gibt es ganz viele, die kommen, wenn irgendetwas Spezielles geboten wird, z. B. wenn der Männerchor singt, eine Rockband einen Gottesdienst gestaltet oder an besonderen Festen. Diese fahren dann auch in die Nachbarpfarrei.
Es kommt darauf an, was man unter Pfarrei versteht. Die Antwort wird anders ausfallen, wenn man die Kerngemeinde meint, die regelmässig den Sonntagsgottesdienst besucht, oder wenn man alle meint, die noch Kirchensteuer zahlen.

Wie ist die Idee von «dual kongruent» zu werten, dass innerhalb eines Netzwerkes priesterliche und seelsorgliche Dienste von einem zentralen Ort aus gewährleistet werden sollen?
Da muss man unterscheiden. In einem städtisch geprägten Umfeld, wo es sowieso schon ein Zentrum gibt, wo die Lebenswelt der Menschen auf dieses Zentrum hin orientiert ist, finde ich es ein sehr sinnvolles Konzept, dass man die Kräfte an einem Punkt konzentriert und darauf achtet, dass die Aussenpfarreien nicht abgehängt werden. 
Wenn man aber Seelsorgeräume betrachtet, in denen es kein solches Zentrum gibt, wenn Menschen auf unterschiedliche Zentren hin orientiert sind – wie z. B. in meinem Pastoralraum, der auf Schaffhausen und Frauenfeld ausgerichtet ist -, bräuchte es ein anderes Konzept. In solchen Fällen sollte man dezentral arbeiten, sollte man versuchen, in möglichst vielen Pfarreien die Ressourcen einzusetzen, damit die Menschen vor Ort mehr gestärkt werden. Wenn man da ein Zentrum einführt, haben viele Pfarreien das Gefühl, dass sie von der grossen Gemeinde geschluckt werden. In ländlich geprägten Gebieten müsste das Seelsorgeteam das Ziel verfolgen, die Kirche vor Ort zu stärken, aber auch einzuladen, den Blick über den Kirchturm hinaus zu richten auf Veranstaltungen, die die Gemeinschaft in einem Pastoralraum fördern. Es kann durchaus sein, dass zwei oder drei Pfarreien etwas enger zusammenarbeiten, sich die Frauengemeinschaft oder der Besuchsdienst über mehrere Pfarreien erstreckt. 

Wie viel Freiheit benötigt eine solche Entwicklung?
Vor Ort muss so viel Partizipation wie möglich gelebt werden. Die Seelsorgenden sollten dies unterstützen und begleiten. Freiwillige wurden früher oft als Handlanger der Hauptamtlichen verstanden. Das funktioniert heute nicht mehr. Freiwillige müssen befähigt werden. Man muss ihnen Leitungsfunktionen übertragen, damit der Aufbau einer lebendigen Kirche zu ihrer Sache wird.

Was halten Sie von der Idee, dass sogenannte Netzwerker*innen vor Ort beauftragt werden sollen?
Diese Aufgabe halte ich für sehr zentral. Es gibt ja nicht nur einen Mangel an Seelsorgenden, sondern auch an Freiwilligen und an Menschen, die sich überhaupt noch mit der Kirche identifizieren. Es ist wichtig, dass man diese Menschen zusammenbringt, dass sie voneinander wissen, dass sich in einem Pastoralraum z. B. Lektor*innen und Mesmer*innen kennen. Wenn man sich kennt, kann man sich auch gegenseitig aushelfen.

Welche Kompetenzen müssten solche Netzwerker*innen mitbringen?
Es kommt darauf an, in welchen Bereichen sie tätig sind. Auf jeden Fall braucht es kommunikative und soziale Kompetenzen. Netzwerker*innen müssen beziehungsfähig sein. 

Wie sollte ihre Auswahl und Beauftragung geschehen?
Das ist eine schwierige Frage. Ideal wäre es, wenn eine Pfarrei selbst solche Leute wählen könnte, so wie man die Mitglieder eines Pfarreirates wählt. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die Pastoralraumleitenden, die nah an den Menschen sind, mögliche Kandidat*innen fragen und dann einsetzen und dass diese von der Bistumsleitung ein Dokument erhalten, durch das sie in ihrer Legitimation gestärkt werden und Wertschätzung erfahren. 

Wie beurteilen Sie die Vision «dual kongruent» als Ganzes? 
Ich finde es ganz wichtig, dass man sich jetzt Gedanken darüber macht, wie die Zukunft der Kirche aussehen kann. Ich finde es schade, dass sehr viel Energie in die geografische Einteilung gesteckt wurde und dass diese zu Beginn als ziemlich festgeschrieben und zu wenig als Prozess wahrgenommen wurde. Das führte zu Missstimmungen.
Das Konzept ist aus meiner Sicht wirklich gut. Die Reduktion der Anzahl von Pfarreien als handlungsleitendes Prinzip finde ich nicht hilfreich. Ich würde eher das Ziel befürworten: eine Kirchgemeinde pro Pastoralraum. Pfarreien sollten nur fusionieren, wenn die Menschen vor Ort wirklich dahinterstehen, und nicht, um eine Mindestzahl von 1´000 Katholik*innen zusammenzubekommen. 
Dabei sollte man nicht nur auf die Engagierten hören, die zu Infoveranstaltungen kommen, sondern auch Menschen in anderen Zusammenhängen befragen wie z. B. bei einem Firmworkshop oder im Alterszentrum. Denn solche Veränderungen haben ja spürbare Auswirkungen auf die gesamte praktische Arbeit. Da braucht es Leitungspersonen, die gut zuhören und die Sorgen und Bedenken der Menschen ernst nehmen. 

Wie versuchen Sie, die Pfarreien Ihres Pastoralraumes auf die Zukunft vorzubereiten?
Mein Traum wäre es, dass es in jeder Pfarrei eine Basisgruppe gibt, welche Kirche vor Ort mitgestaltet und die wenigstens einmal pro Jahr ein Forum organisiert, bei dem die Pfarreiangehörigen in der Seelsorge Mitsprache erhalten und diese mitgestalten können. Ausserdem wäre es gut, wenn die Engagierten aus allen Pfarreien ein bis zwei Mal pro Jahr zu einem Pastoralraum-Forum zusammenkommen. 
Ich habe bereits ein Pfarreiforum durchgeführt, das gerade ausgewertet wird. Ich möchte daran prozesshaft weiterarbeiten. Das ist nicht ganz einfach, da das Alltagsgeschäft ja auch erledigt werden muss. Die Mitarbeitenden und die Freiwilligen müssen dafür Ressourcen freischaufeln. Aber ich merke, dass viel Engagement und Freude vorhanden ist. 

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 25.01.2023


Dual kongruent
Die Vision «dual kongruent» regt an, im Thurgau fünf Netzwerke mit jeweils einem Zentrum zu bilden, denen jeweils fünf Pfarreien bzw. Kirchgemeinden angehören. Theologisch ausgebildetes Personal soll von den Zentren aus agieren. Netzwerker*innen sollen die Verbindung vor Ort und zu den Seelsorgenden gewährleisten (s. www.kath-tg.ch/de/dual-kongruent). 
Zu Beginn des Jahres startete ein Pilotprojekt zur Vision «dual kongruent» mit Vertreter*innen der Kirchgemeinden Fischingen, Bichelsee, Aadorf-Tänikon, Wängi und Sirnach. Mithilfe des Projektes sollen erste Schritte der Kooperation erprobt und Erfahrungen gesammelt werden.


https://www.forumkirche.ch/de/article/projektstart-im-thurgau-sued

Barbara und Robert Weinbuch
Quelle: Detlef Kissner
Das Theologenehepaar Barbara und Robert Weinbuch vor dem Eingang zu ihrer Wohnung in Mammern

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