Der Zauber des «umgekehrten» Adventskalenders

Sich nicht beschenken lassen, sondern andere beschenken, denen das Leben nicht so gut mitspielt – das ist die Grundidee des «umgekehrten» Adventskalenders. Beni Merk aus Kreuzlingen fand diese Idee super und setzte sie letztes Jahr mit seiner Familie um. Dieses Jahr werden auf seine Initiative hin bereits 60 solcher Kalender bestückt.

Vom 1. Dezember bis zum Heiligen Abend öffnet man jeden Tag ein Türchen und lässt sich durch eine kleine Köstlichkeit überraschen. So funktioniert normalerweise ein Adventskalender. Beim «umgekehrten» Adventskalender werden die Rollen hingegen getauscht: Man legt jeden Tag ein kleines Geschenk (haltbare Lebensmittel, Hygieneartikel, eine Kerze, Guetzliform, Mütze usw.) in eine grosse Kiste und übergibt diese dann anonym an jemanden, der normalerweise nicht in den Genuss solcher Dinge kommen würde.

Diese Anregung entdeckte Beni Merk auf der Facebook-Seite von www.streetlife.wien, einer österreichischen Webseite, die bürgerschaftliches Engagement fördert, und war begeistert davon. Er und seine Frau, mit der er gemeinsam das Internat der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen leitet, beschlossen, dieses kleine Adventsprojekt in ihrer Familie auszuprobieren. «Man schenkt sich oft überflüssiges und unnützes Zeug, nur weil es so Tradition ist», erläutert Beni Merk seine Beweggründe. Mit dem «umgekehrten» Adventskalender bekomme Schenken wieder einen Sinn. Auch in ihrem Freundeskreis kam die Idee gut an. Nun war nur noch die Frage der Verteilung zu klären. Caritas Thurgau zeigte sich gerne bereit, die Adventspakete an bedürftige Personen und Familien weiterzuleiten. Zwei bis drei kleine Hinweise über die Empfänger – wie etwa die Anzahl der Personen, Alter oder Vorlieben – erleichterten das Zusammenstellen der Pakete.

Ganz praktisch helfen

Beni Merk erinnert sich gern an die Adventskalender, die er in seiner Kindheit geschenkt bekam – auch an die ganz einfachen mit Bildchen, die er «mit einer Nadel aufgepfriemelt» hat. «Ich finde es bis heute ein schönes Ritual», bekennt er offen. Dies mag ein weiterer Grund dafür gewesen sein, warum ihn die Idee des «umgekehrten» Adventskalenders begeisterte. Anderen einfach mit Geld zu helfen, ist für ihn zu unpersönlich. «Ich finde es gut, wenn man ganz praktisch etwas tun kann und Schenken erlebbar wird», sagt Merk. So seien in seiner Familie beim Befüllen der Kiste immer wieder spannende Gespräche zustande gekommen. Die Kinder hätten z. B. nicht verstanden, wie man Nudeln verschenken könne, da diese doch im Vorratsschrank lägen: «Die Aktion hat uns geholfen, uns mit der Situation anderer Menschen auseinanderzusetzen und uns bewusst zu machen, dass es eben nicht allen gut geht.»

Ähnliche Erfahrungen machte eine Kollegin von Beni Merk, die sich mit einer Unterstufenklasse an der Aktion beteiligte. Auch dort entwickelten sich interessante Gespräche und die Kinder waren herausgefordert, sich in eine andere Lebenswirklichkeit hineinzuversetzen.

Grosse Resonanz

Das Echo auf die Päckchen-Aktion erlebte Beni Merk als «super schön»: Die beschenkten Personen und Familien hätten «total rührend geschrieben», wie sie der Adventskalender überrascht habe und sie sich darüber gefreut hätten.

Diese Rückmeldungen und die Erfahrungen vom letzten Jahr motivierten ihn und seine Familie, die Aktion fortzuführen und Informationen darüber in den sozialen Netzwerken zu streuen. Nachdem letztes Jahr sieben Adventspakete zusammenkamen, meldeten sich dieses Jahr bereits 60 Interessierte. «Die Aktion wurde zum Selbstläufer. Wir mussten fast schon bremsen, weil es mit der Verteilung schwierig wurde», erzählt Beni Merk. Doch er fand weitere Partner, die diese Aufgabe gern übernahmen. Caritas Thurgau vermittelte den Kontakt zum Caritas-Markt Winterthur, wohin nun 20 Adventskalender aus dem Raum Zürich geliefert werden. Eine Kollegin von Beni Merk, die sich letztes Jahr an der Aktion beteiligt hatte, hatte dort nämlich die Werbetrommel gerührt. Ausserdem fragte er beim Sozialamt Kreuzlingen nach: «Auch dort kam die Idee gut an. Die Zusammenarbeit gestaltet sich unkompliziert und unbürokratisch.»

Organisation wird aufwendig

Was klein begann, wuchs inzwischen zu einem Projekt heran, das sich nicht mehr «nebenbei» managen lässt. Obwohl Beni Merk diese Entwicklung freut, spürt er auch, dass er an seine Grenzen kommt: «Ich frage mich manchmal, wann ich das alles machen soll.»

Ausserdem entwickelt die Aktion seiner Ansicht nach eine Eigendynamik, die von der ursprünglichen Idee abweicht. Denn inzwischen erreichen ihn nicht nur Eckdaten zu einzelnen Empfängern, sondern auch ganz konkrete Wunschlisten. «Da geht die Freiheit beim Schenken verloren. Das Schöne daran ist ja, sich zu überlegen, was dem anderen gefallen könnte, auch wenn man es nicht hundertprozentig trifft. Ausserdem geht es ja bei einem Adventskalender um kleine Aufmerksamkeiten», gibt Merk zu bedenken.

Unterm Strich zieht er eine positive Bilanz. Ihn überrascht vor allem, dass so viele spontan bereit sind mitzumachen: «Das ist für mich ein Hoffnungsschimmer. Es gibt doch noch einige Menschen in unserer Gesellschaft, denen das Schicksal anderer nicht egal ist.»

Genau richtig

In der Vorweihnachtszeit lassen es sich die meisten Menschen gut gehen mit verschiedenen Leckereien bei Tee und Kerzenlicht… «Armut ist für die, die sich das nicht leisten können, dann noch spürbarer», sagt Simone Rutishauser, Mitarbeiterin der Caritas Thurgau. Deshalb ist für sie der «umgekehrte» Adventskalender ein tröstliches Zeichen in der richtigen Zeit. Überhaupt gefiel ihr die Idee so gut, dass sie sich dieses Jahr auch mit ihrer Familie daran beteiligt und einige ihrer Freunde dafür gewinnen konnte. «Mit dieser Aktion kann man Kinder gut dafür sensibilisieren, was es heisst, arm zu sein», hebt die Sozialpädagogin hervor. Sie würde sich freuen, wenn auch an anderen Orten im Thurgau jemand die Initiative für den «umgekehrten» Adventskalender ergreift. Es fänden sich sicherlich genug Abnehmer dafür. Für die Verteilung könnte die Caritas Thurgau weitere Sozialeinrichtungen anfragen.

Detlef Kissner (3.12.19)

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Mit einer selbst entworfenen bunten Grafik wirbt Beni Merk für den «umgekehrten» Adventskalender.

Grafik: zVg

 
 
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Beni Merk und seine Tochter freuen sich auf den nächsten «umgekehrten» Adventskalender.

Bild: Detlef Kissner

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