Über die Bedeutung und Entwicklung von Spiritual Care

Die Erkenntnis, dass der Glaube Heilung unterstützen und gerade für Patient*innen im Spital wichtig werden kann, ist nicht neu. Simon Peng-Keller erklärt, was diese Erkenntnis für das Zusammenspiel der Berufsgruppen im Spital bedeutet. Er ist Professor für Spiritual Care an der theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Wie kann man Spiritual Care definieren?
Der Begriff selber ist nicht neu. Er wurde lange Zeit synonym für Seelsorge benutzt. In den letzten Jahrzehnten hat er eine zusätzliche Bedeutung erhalten. Er steht für einen Paradigmenwechsel in der modernen Medizin, für das Bewusstsein, dass bei therapeutischen Prozessen die spirituelle Dimension wichtig ist und einbezogen werden sollte. Spiritual Care wird in verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems berücksichtigt. In der Schweiz ist Spiritual Care vor allem in der Palliativversorgung etabliert. 

Worin unterscheidet sich Spiritual Care von der klassischen Spitalseelsorge?
Spitalseelsorge nimmt im Bereich von Spiritual Care eine besondere Aufgabe wahr. Wie diese zu verstehen ist, darüber wird debattiert. Mit der Entwicklung, dass die spirituelle Dimension auch für die Medizin, die Pflege und die Psychotherapie wichtig geworden ist, steht die Spitalseelsorge vor der Herausforderung, mit diesen Berufsgruppen zu kooperieren. Spiritual Care ist eine interprofessionelle Aufgabe geworden. 

Bedeutet das, dass es weniger Abgrenzungen zwischen den Professionen gibt?
Wie bei jeder interprofessionellen Arbeit gilt, dass jede Berufsgruppe ihre eigene Kompetenz und Verantwortung hat. Da muss man die Grenzen ausloten. Jede Berufsgruppe soll Spiritual Care von ihrer Perspektive aus wahrnehmen. Dabei soll man zusammenarbeiten und sich gut abstimmen.

Wie kam es zu dieser Weiterentwicklung von Spitalseelsorge zu Spiritual Care? 
Es gibt verschiedene Stränge, die dazu geführt haben. Zum einen ist es eine logische Entwicklung in der modernen Medizin, die sich zunächst auf das Biomedizinische fokussiert hatte. Dann entdeckte man, dass man die anderen Aspekte wie z. B. den psychosozialen nicht ausblenden kann, sondern einbeziehen muss. In einem weiteren Schritt kam noch die spirituelle Dimension dazu. Manche Bereiche haben diese schon früh entdeckt wie die Hospizbewegung Ende der 1960er-Jahre und die darauf aufbauende Palliative Care.
Ein weiterer Impuls kam aus der WHO, die in den 1980er-Jahren im Rahmen einer Resolution die Mitgliedsländer aufforderte, die spirituelle Dimension in ihre Gesundheitsprogramme einzubeziehen. 
Schliesslich hat die Pflegewissenschaft, die zum grossen Teil von christlichen Organisationen getragen wurde, diese ganzheitliche Dimension als wichtige Kompetenz der Pflege erschlossen. In der Schweiz war es vor allem Liliane Juchli, deren Lehrbuch das Standardwerk der Pflegeausbildung darstellte. Zwischenzeitlich verloren diese Impulse wieder an Bedeutung. 

Wo steht diese Entwicklung heute? Hat sie sich etabliert?
Leider nicht. Sie ist noch sehr in Bewegung. In Westeuropa ist sie noch in den Anfängen. Im Bereich der Palliativversorgung ist die Bedeutung der spirituellen Dimension zumindest in der Theorie fest etabliert. In der praktischen Umsetzung gibt es auch hier noch viel zu tun. In anderen Bereichen der medizinischen Versorgung ist man noch nicht so weit. Das zeigte sich z. B. auch in einem Projekt, wo es um multimodale Schmerztherapie ging. Die Therapeut*innen waren offen für Spiritual Care, aber die Implementierung steht noch am Anfang.

Wie hat man sich Spiritual Care ganz konkret vorzustellen? 
Spiritual Care wird z. B. wichtig, wenn eine Umstellung von einer kurativen onkologischen Therapie hin zu einer rein palliativen Versorgung ansteht. Da kommen viele Fragen auf: Welche Werte hat die betroffene Person? Was sagt das Umfeld? Was sind die medizinischen Perspektiven? Schliesslich stellen sich auch spirituelle Fragen: Wie stellt man sich das Sterben vor? Wie kann und will ich mich darauf vorbereiten? Um Menschen, die an diesen Übergängen stehen, gut begleiten zu können, müssen auch Gesundheitsfachpersonen eine Grundkompetenz in Spiritual Care haben und mit Seelsorgenden zusammenarbeiten. Man muss sich schliesslich mit dem*der Patient*in und den Angehörigen auf ein gemeinsames Vorgehen abstimmen.

Hat Spiritual Care auch die Mitarbeitenden des Gesundheitssystems im Blick?
Natürlich geht es zunächst um die Patient*innen und ihre Angehörigen, dass für sie eine gute Versorgung möglich ist. Aber es ist auch wichtig, wo die begleitenden Professionen selber stehen. Es geht immer auch um Self-Care, gerade wenn es um existenzielle Belange geht. Sterben und Tod lösen auch bei den begleitenden Teams sehr viel aus. Es braucht eine Reflexion auf den eigenen Umgang mit diesen Themen.

Indem man z. B. in einer Supervision darüber spricht?
Ja, oder auch Rituale pflegt. Auf den meisten Palliativstationen ist es so, dass man im Team ein Ritual hat, bei dem der Verstorbenen gedacht wird, um sich von ihnen zu verabschieden. 

Wer wird in Spiritual Care ausgebildet und in welcher Weise?
Meine Lehre an der Uni Zürich betrifft Medizinstudierende genauso wie Theologiestudierende. Mein Hauptlehrangebot ist interprofessionell, weil die Verständigung schon auf der Stufe der Grundausbildung beginnen muss. Natürlich ist es ein Unterschied, mit welcher Profession man sich der Spiritual Care zuwendet. Für Ärzt*innen und Pflegepersonen ist es eine Nebenkompetenz, während Seelsorgende hauptsächlich dafür ausgebildet werden. Aber es braucht bei jeder Berufsgruppe eine Sensibilisierung.

Wenn Seelsorge auf eine breitere Basis gestellt werden soll, braucht es dann die Kirchen überhaupt noch?
Was wäre die Alternative? Die Kirchen waren immer schon im Gesundheitswesen engagiert. Die Sorge um kranke, alte und sterbende Menschen gehört zu deren Grundauftrag und das wird auch in Zukunft so bleiben. Durch ein professionelles Seelsorgeangebot, das an die neuen Gegebenheiten angepasst ist, leisten die Kirchen einen wichtigen Beitrag zum Gesundheitswesen. Es kann sein, dass künftig auch nicht-kirchliche Akteure im seelsorglichen Feld tätig sein werden. In Holland hat sich z. B. in den letzten Jahren eine humanistische Seelsorge herausgebildet. Doch gibt es auch dort weiterhin ein christliches Seelsorgeangebot. 

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) liess die Unterzeichnung der «Charta für Seelsorge im Gesundheitswesen» platzen (vgl. Kasten), weil es von kantonalkirchlicher Seite u.a. die Befürchtung gab, dass die Charta «die Verantwortung (für die Seelsorge) von den Kirchen zu den Spitälern und Standesorganisationen hin» verschiebt. Wie schätzen Sie diese Befürchtung ein?
Das ist eine paradoxe Geschichte, weil diese Charta ja gerade dafür entwickelt wurde, die christliche Seelsorge zu stärken. Ich halte diese Befürchtungen jedenfalls für übertrieben. Wichtig ist, dass sich das kirchliche Angebot zukunftsfähig weiterentwickelt.
Ich glaube, dass da viele Missverständnisse passiert sind. Die EKS hat versäumt, die Kantonalkirchen rechtzeitig über die Intention der Charta zu informieren und sie zu konsultieren. Die Charta ist ja nicht ein bindender Vertrag, in dem die Grundlagen des professionellen Selbstverständnisses geregelt werden, sondern sie ist vielmehr eine Absichtserklärung der Schweizer Kirchenleitungen, dass sie sich in diesem Feld in Zukunft engagieren und weiterentwickeln wollen.

Ausserdem forderten die Zürcher Reformierten, dass die Charta «nicht nur ökumenisch, sondern vom Rat der Religionen getragen werden» soll. Wie stehen Sie dazu?
Man kann sich immer wünschen, dass solche Prozesse möglichst breit abgestützt werden. Aber dadurch wäre es auch komplizierter geworden. Es ist schon viel, dass man in einem ersten Schritt innerhalb der grossen christlichen Kirchen, die ja gegenwärtig die meisten spezialisierten Seelsorgeangebote in Gesundheitsinstitutionen verantworten, einen Konsens gesucht hat. Als nächstes steht der Einbezug der muslimischen Seelsorge an, die sich derzeit vielerorts entwickelt.

Die Charta ist also offen für weitere Partner?
Ja, in zwei Richtungen, die zu unterscheiden sind: Zum einen geht es um die Interprofessionalität im Gesundheitswesen und zum anderen um die Frage, wie man mit der Pluralisierung der Gesellschaft umgeht. In der Diskussion über die Charta gingen beide Themen durcheinander. In der Charta wollte man nur das erste Thema angehen. Man kann nicht beide Schritte gleichzeitig machen. 

Welchen Stellenwert hat die Charta für Spiritual Care?
Es ist eine Entwicklung im Gang, die Streuungsbedarf nach sich zieht. Es ist klar, dass man auf nationaler Ebene, am besten ökumenisch, zusammenarbeiten muss - bei allen Differenzen, die es durch das kantonale Gesundheitssystem geben wird. 
Zur Konsensfindung braucht es ein Forum. Die Charta ist gedacht als erster Schritt hin zu einer nationalen Koordinationsstelle, die auch ökumenisch getragen wird. Von Seiten der Kirchen können dort auch miteinander Fragen diskutiert, Strategien entwickelt und die Ausbildungen weiterentwickelt werden. 

Wie geht es nun mit diesem ökumenischen Projekt weiter?
Es braucht nun zunächst eine Klärung innerhalb der EKS und ein klares Zeichen, wo man in diesem Prozess steht. Die SBK und die Seelsorgevereinigung stehen ja weiterhin hinter der Charta. Ich hoffe, dass die EKS sich am Ende doch noch zu einer Unterzeichnung durchringen kann.

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 17.03.2022
 


Zur Charta 
Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) und der Berufsverband für Seelsorge/spezialisierte Spiritual Care im Gesundheitswesen der Schweiz (BSG) haben gemeinsam eine «Charta für Seelsorge/spezialisierte Spiritual Care im Gesundheitswesen» erarbeitet, die am 1. März hätte unterzeichnet werden sollen. Dagegen erhob sich Einspruch innerhalb der EKS. Daraufhin wurde die Veröffentlichung erst einmal gestoppt. 
 

Simon Peng-Keller
Quelle: © Bruederli
Simon Peng-Keller ist seit 2015 Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Spiritual Care
Quelle: shutterstock.com
Durch Spiritual Care soll auch das Gesundheitspersonal sensibilisiert werden für religiöse Fragestellungen.

Kommentare

+
Jürg Haag

17.03.2022, 20:51

Ich sehe in dieser Ausbildung eine wirkliche Chance, auf Bedürfnisse von kranken und sterbenden Menschen einzugehen, aber auch für all jene, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. Sollte ein Pflichtfach werden für Pflegeleute, Ärzte und Seelsorger.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.