Ein erfrischender Blick auf christliche Vorbilder

Heilige sind keine entrückten Superhelden, sondern Menschen, die nach Gott suchen und seine Liebe in ihrem Lebensumfeld aufscheinen lassen. Dies kommt in dem neu erschienenen Buch «Heilig» durch sechs Lebensbilder zum Ausdruck, das die Evangelisch/Römisch-katholische Gesprächskommission (ERGK) Anfang September herausgegeben hat. Annemarie Schobinger, Mitautorin und Co-Präsidentin der ERGK, erzählt in einem Interview, wie es zu dem Buch kam und welche Chancen die Beschäftigung mit einer* einem Heiligen bietet.

Wer ist heilig? Wie würden Sie das beschreiben? 

Es ging uns in der ERGK darum, diesen Begriff im ökumenischen Dialog zu klären. Die Katholiken haben Abstand genommen von einer Heiligenverehrung, die manchmal fast ins Magische abgerückt war. Und die Reformierten haben sich distanziert von der radikalen Ablehnung der Heiligenverehrung. Da hatten wir uns gefunden. Nach christlichem Glauben ist Heiligsein im Taufsakrament begründet. In der Taufe wird der Mensch christusförmig. Diese Christusförmigkeit gilt es das ganze Leben lang zur Entfaltung zu bringen. Ein Heiliger ist also ein Mensch, der völlig von Christus durchdrungen ist, der durchsichtig ist auf Christus. Heiligsein ist die normale Berufung des getauften Christen und nicht eine Ausnahme. Das feiern wir an Allerheiligen. Deshalb ist nicht nur der Mensch heilig, der etwas Aussergewöhnliches vollbringt. Die Berufung eines Nikolaus von Flüe, den ich sehr verehre, können wir nicht nachahmen. Nichts essen, nichts trinken, die Familie verlassen, in einer Einsiedelei leben – das ist aussergewöhnlich. Die Betonung des Aussergewöhnlichen hat im Katholizismus dazu geführt, dass man die Heiligen bestaunt hat und sich sagte: «Wunderbar, aber natürlich nicht für mich». Und somit war man dispensiert. Doch – es gilt auch für mich, aber nicht unbedingt das Aussergewöhnliche. Nikolaus hat sein Heiligsein auch schon vorher gelebt in der Politik, im Gericht, in der Familie, als Bauer…

Wie kam die ERGK auf die Idee, ein Buch über das Heiligsein zu veröffentlichen? 

Wir hatten schon viele, sehr zentrale Themen besprochen, z. B. die eucharistische Gastfreundschaft, das Amtsverständnis die Frage, was Kirche ist… Bei all diesen Themen kommen wir immer an einen Punkt, bei dem wir stecken bleiben. Am deutlichsten ist dies bei der eucharistischen Gastfreundschaft. Da kam uns in den Sinn, dass uns das Thema der Heiligen auch entzweit hat und dass es im ökumenischen Dialog fast fehlt, also Brachland ist. Da haben wir uns gedacht, das können wir ja mal beackern und schauen, was dabei herauskommt. Wir sind sehr weit gekommen. Über die Vorstellung, was Heiligkeit christlichen Lebens bedeutet, sind wir uns eigentlich einig.

Gab es bei diesem Thema keine konfessionellen Unterschiede?

Doch, wir sind uns nicht einig darin, was der bereits verstorbene Heilige für eine Funktion hat. Für die reformierte Kirche ist es undenkbar, dass man Heilige um ihre Hilfe anruft. Damit würde man ausdrücken, dass das Erlösungswerk Christi nicht genügt. Ich habe versucht aufzuzeigen, dass das im katholischen Verständnis nicht so gemeint ist, sondern dass es im Sinn der Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir auch gehören, eine Art «Familienangelegenheit» ist. In dem Sinne: «Du hast es geschafft. Kannst du mir da weiterhelfen? Du bist ja am Ziel, du bist bei Gott, du siehst es ja viel besser als wir». Pfarrer Dr. Martin Hirzel von der reformierten Landeskirche erzählte mir, dass der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist, der seinen Vater früh durch einen Unfall verloren hatte, eine sehr starke Beziehung zu seinem verstorbenen Vater entwickelt habe. Für ihn sei der Vater wie eine Brücke geworden zu Gott. Als Kind hätte er sich gesagt, dass der liebe Gott nicht immer Zeit habe, aber der Vater habe Zeit und so könne er ihn um Rat fragen. Pfarrer Hirzel sagte zu mir: «Als ich das las, ging mir ein wenig auf, was für euch Katholiken die Fürsprache der Heiligen bedeutet».

Die Lebensbilder der sechs dargestellten Personen stehen für viele andere Heilige. Wie wurden diese Personen ausgewählt?

Ganz nach dem Geschmack der Autor*innen. Wir sind sechs Mitglieder in der Kommission. Jedes Mitglied hat sich eine Person ausgewählt, in deren Lebensform sich etwas findet, was wir als heilig bezeichnen. Dadurch sind auch Personen aus ganz verschiedenen Lebensbereichen zur Sprache gekommen, alle aus der jüngeren Vergangenheit. Etty Hillesum war z. B. keine Christin. Sie stand dem Christentum sehr nahe, aber auch dem Judentum, Jochen Klepper war ein Lutheraner, Chiara Lubich gehörte der Fokolarbewegung an. Und Madeleine Delbrêl ist für mich die Figur, die am deutlichsten in die Laienwelt übersetzt, was Therese von Lisieux mit ihrer Lehre des kleinen Weges formuliert hat. Da, wo ich bin, das, was ich zu tun habe, das Hier und Jetzt, das ist der Stoff, der aus mir einen heiligen Menschen machen kann. Man braucht nichts Anderes zu suchen.

Welchen Charakter haben die Darstellungen der sechs Personen?

Bei allen Porträts steht die Hingabe an Gott im Zentrum, der mich führt, der mich prägt. Sie zeigen auf: Wenn ich mich ihm über - lasse, dann führt er mich zum Ziel. Damit verbunden ist eine ganz tiefe Lebensfreude, auch in ganz schwierigen Situationen, bei Etty Hillesum im Sammellager für holländische Juden, bei Madeleine Delbrêl im Elend der Arbeiterquartiere. Man erlebt immer diese strahlende Freude aus der Überzeugung heraus: «Ich trage Gott in mir, er ist da, ganz konkret».

Sie stellen die französische Katholikin Madeleine Delbrêl (1904–1964) vor. Welchen Bezug haben Sie zu ihr? Was fasziniert Sie an dieser Frau?

Es ist eine Figur, die ziemlich genau unsere heutige Situation widerspiegelt. Sie kommt aus einem Milieu, wo man halt katholisch war – so, wie man heute in weiten Kreisen katholisch ist. Sie hat ein starkes Bekehrungserlebnis, das damit beginnt, dass sie Menschen aus ihrem Freundeskreis beten sieht. Das war bei verschiedenen Personen so, z. B. auch bei Simone Weil oder bei einem mir sehr nahestehenden Freund. Madeleine Delbrêl sagte sich: «Ich bin in Kontakt mit Menschen, mit denen ich diskutiere und tanze, die so leben wie ich. Sie sagen, dass das Beten für sie sehr wichtig sei. Jetzt probiere ich das auch einmal». Und dann geht sie auf die Knie, beginnt zu beten und stellt fest: «Da ist jemand». Und da wurde alles anders. Das Besondere ist, dass diese Umkehr angehalten hat, sie war nicht nur ein vorübergehendes Highlight. Sie hat ihr ganzes Leben umgekrempelt. Madeleine fing an zu suchen: Sie meinte, dass das Kloster der Ort sei, wo sie das Erfahrene leben könnte. Da wurde ihr wie Therese von Lisieux klar: «Nein, wo ich gerade bin, muss ich das leben. Ich brauche gar nichts anderes zu suchen».
Ihre Freude, in die sie dann eingetaucht ist, ist in all ihren Texten spürbar. Ich habe es furchtbar bedauert, dass ich meinen Text auf Deutsch schreiben und somit die Texte von Madeleine Delbrêl, die einen ungeheuren Charme haben, übersetzen musste. Sie sagt z. B. in einem Gebet: «Schau mal, lieber Gott, eigentlich wartest Du darauf, dass wir mit dir tanzen. Wenn man mit dir tanzt, darf man nicht ständig fragen, warum gehst du vorwärts, warum rückwärts? Das gehört zum Tanzen, dass man sich einfach in die Arme des Partners gibt und mit ihm nach rechts und nach links gleitet und sich dann dreht. Aber wir haben aus dem Leben eine langweilige Turnübung gemacht. Hilf uns! Lehre uns tanzen.»  

Inwieweit ist sie für Sie ein Vorbild?

Ich bin ja auch Laie, habe in einem Beruf gearbeitet, den Alltag erlebt, nichts Besonderes. Sie ist eine der ersten, die stark unterstrichen haben, dass Priestertum und Ordensleben nicht an sich vollkommenere Lebensformen sind als das Leben der Laien. Diese Vorstellung wurde ja bis in nicht allzu ferne Zeiten immer wieder vertreten. Madeleine hat dagegen betont, dass sie als Gläubige genauso intensiv das Chris - tentum, ihr Taufsakrament leben kann wie eine Karmelitin oder ein Priester. Sie wollte Laie sein und bleiben. 90 Prozent der katholischen Kirche besteht ja aus Laien.

In dem Buch findet man neben den «Lebensbildern» auch zwölf Fotoporträts von «normalen» Zeitgenossen aus der Schweiz. Welche Intention verbinden Sie mit dieser Gegenüberstellung?

Bei der Gestaltung des Buches wurde uns klar, dass wir keine frommen Bilder ein - setzen können, weil wir uns damit selbst widersprechen würden. Es sollten Bilder aus dem Alltag sein. Die Fotografin Pia Petri Maurer schlug uns vor, gewöhnliche Menschen vor einer Goldwand zu fotografieren, die an Ikonen erinnert. Es sind alles Menschen, die ihren Glauben an Christus ganz konkret und ganz bewusst in ihrer je eigenen Situation umzusetzen versuchen, indem sie ihren Wohlstand mit den Ärmsten teilen, ein schwer behindertes Kind liebevoll aufnehmen, Menschen, die straffällig geworden sind, nicht nur mit beruflicher Kompetenz, sondern mit Gebet begleiten usw.

Und diese gewöhnlichen Menschen wurden vor einem goldenen Hintergrund fotografiert…

Ja, um darauf hinzuweisen, dass dieses konkrete Leben, das oft schwer ist, er - leuchtet und durchdrungen werden kann.

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 20.10.20


Zum Buch

Das Buch «Heilig» porträtiert sechs bemerkenswerten Personen. Neben Madeleine Delbrêl (s. o.) sind dies die französische Karmeliterschwester Therese von Lisieux (1873–1897), die niederländisch-jüdische Intellektuelle Etty Hillesum (1914–1943), der deutsche evangelische Theologe Jochen Klepper, der zweite Generalsekretär der Vereinten Nationen Dag Hammarskjöld (1905–1961), die Gründerin der Fokolarbewegung Chiara Lubich (1920–2008). In ihrem Leben, das geprägt war von Gegensätzlichkeiten und dem Einsatz für die Nächsten, leuchtet etwas von der Heiligkeit Gottes auf. Das Buch kann bei sekretariat@bischoefe.ch gratis bestellt oder als pdf heruntergeladen auf der SBK-Seite (Link www.bischoefe.ch/fachgremien/evangelisch-roemisch-katholisch) werden.

 

Zur ERGK

Die Evangelisch/Römisch-katholische Gesprächskommission (ERGK) ist ein gemeinsames Gremium der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Die Dialogkommission wurde 1966 – im Nachgang zum Zweiten Vatikanischen Konzil – gegründet und bespricht pastorale Fragen des ökumenischen Zusammenlebens. Sie hatte zuletzt sechs Mitglieder.
 

Annemarie Schobinger war Rektorin am Gymnasium Heilig-Kreuz in Fribourg
Quelle: zVg
Annemarie Schobinger war Rektorin am Gymnasium Heilig-Kreuz in Fribourg

 

 

 

 

Madeleine Delbrêl als Pfadfinderin (1928)
Quelle: unbekannt; Bearbeitung: J. Faujour, © Amis de Madeleine Delbrêl
Madeleine Delbrêl als Pfadfinderin (1928)

 

 

 

 

Eines der Fotoporträts
Quelle: Pia Petri Maurer, © 2020 EKS und SBK
Eines der Fotoporträts: Ein Student, der grundlos auf der Strasse zusammengeschlagen wurde und wochenlang im Koma lag. Er vergab seinen Peinigern.

 

 

 

 

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