Jährlicher Bericht zeigt massive Zunahme

Juden wurden im Laufe der Geschichte oft als Schuldige für jegliche Krisen diffamiert – so auch während der Pandemie. Gerade im letzten Jahr nahmen antisemitische Äusserungen und Verschwörungstheorien vor allem im Internet zu. Das zeigt der kürzlich veröffentlichte schweizweite Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA)

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die antisemitischen Vorfälle im Onlinebereich haben sich beinahe verdoppelt – von 485 im Jahr 2020 auf 806 im Jahr 2021. So steht es im Antisemitismusbericht von SIG und GRA, dessen analysierte Daten auf einem schweizweiten manuellen Monitoring vordefinierter Plattformen und Kanäle basieren. Die meisten diskriminierenden Äusserungen wurden dabei auf dem Messenger-Dienst Telegram gefunden (61%), und – an zweiter Stelle – auf Twitter (28,2%). Auch in der realen Welt kam es zu einer Steigerung mit 53 registrierten antisemitischen Vorfällen im Vergleich zu 47 im Jahr 2020. Tätlichkeiten wurden zwar keine gemeldet, dafür aber vor allem öffentliche Beschimpfungen sowie Schmierereien. Zudem kamen beleidigende Briefe sowie E-Mails im Berichtsjahr häufiger vor. 

Hauptbeschleuniger Pandemie
Aus dem Bericht wird ersichtlich, dass die Zunahme judenfeindlicher Äusserungen auf Telegram nicht zuletzt daran liegt, dass hier der Nachrichtenfluss von keiner übergeordneten Distanz überprüft wird. Hingegen haben sowohl Facebook wie auch Twitter in den letzten Jahren ihre Regeln verschärft. Auch viele Medienplattformen intensivierten die Kontrolle ihrer Kommentarspalten. Bezeichnend ist ebenfalls, dass sich die erneute Eskalation des Nahost-Konflikts im letzten Jahr offensichtlich weniger auf die massive Zunahme von antisemitischen Online-Vorfällen ausgewirkt hat. Als entscheidender Auslöser wird hier die Pandemie genannt. Einerseits weil in dieser Zeit die physischen Kontakte stark eingeschränkt waren. Auf der anderen Seite führte die Krise dazu, dass «antisemitische Verschwörungstheorien förmlich explodiert sind», sagt SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner. Er fügt hinzu: «Begünstigt durch die Geschichte waren Pandemien schon immer der Nährboden für solche Überzeugungen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sich über die Hälfte aller Vorfälle, die wir 2021 registriert haben, auf die Corona-Krise beziehen». Auch die Gruppierungen der Massnahmengegner hätten viele Anhänger*innen mit zweifelhaftem Gedankengut angezogen. Erkennbar daran, dass sowohl in den Telegram-Chats wie auch auf Demonstrationen «Judensterne» mit der Aufschrift «ungeimpft» oder «Covid-Zertifikat» zu sehen waren.

Frei von Vernunft 
Diese Vergleiche mit der Schoah seien nicht nur unangebracht, sondern auch brandgefährlich, weil sie zu einer gewissen Verharmlosung führten. Doch wie kommt es überhaupt zu dieser abwegigen Verknüpfung? «Vernunft sucht man hier vergeblich. In den Chats wird einerseits behauptet, dass jüdische Menschen das Virus absichtlich in die Welt gesetzt haben. Andere wiederum meinen im gleichen Forum, dass das Virus von Juden nur erfunden wurde, damit die Menschheit sich aus Angst davor besser knechten lasse. Dass zwei eigentlich widersprüchliche Theorien hier co-existieren können, zeigt die Absurdität des Ganzen», so Jonathan Kreutner. Die Kommentare und Posts kämen von keiner spezifischen Gruppe, sondern aus der Mitte der Gesellschaft und aus allen Milieus. Gewisse Äusserungen seien aber ganz klar dem rechten Spektrum zuzuordnen. So wurden in diesem Zusammenhang mehr Posts gezählt, in denen Personen die Schoah leugneten oder banalisierten. «Auch arbeiten diese Kreise in den Foren mehr mit codierten Nachrichten, um auf diese Weise unterschwellige Botschaften unbehelligt zu verbreiten», sagt Kreutner. 

Unterstützung gefordert
Zu den gravierendsten Vorfällen in der realen Welt zählt die Beschädigung der Synagoge in Biel. In deren Eingangstür wurden mit einem scharfen Gegenstand antisemitische Parolen und ein Hakenkreuz geritzt. Jonathan Kreutner zählt des Weiteren den Fall einer jüdischen Schülerin aus Zürich auf, die über einen längeren Zeitraum beschimpft wurde. Ob online oder offline: Beide Kurven zeigen eine stetige Tendenz nach oben. Wird sich die Entwicklung so fortsetzen? «Davon ist leider auszugehen. Wir sind nicht naiv. Was Corona in den letzten zwei Jahren als Grundstein gelegt hat, wird nicht einfach wieder verschwinden. Die Massnahmen sind vielleicht beendet, aber die Gedanken noch da», erklärt der SIG-Generalsekretär. Deshalb fordert die Organisation von der Politik auch mehr Unterstützung in der Beobachtung und Analyse solcher Fälle sowie härtere Repressionen gegen Hassreden und die Verwendung bestimmter Symbole. Bund und Kantone müssten ebenfalls in der Prävention aktiver werden. Und auch die Kirchen könnten im Rahmen ihrer Möglichkeiten bestimmte interreligiöse Projekte unterstützen, die helfen, Vorurteile abzubauen. Als Beispiel nennt Jonathan Kreutner das SIG-Dialogprojekt «Likrat», bei dem jüdische Jugendliche Schulklassen besuchen, um Fragen zum Judentum zu beantworten. 

Sarah Stutte, forumKirche, 16.03.2022
 

Vollständiger Antisemitismusbericht: www.swissjews.ch

Nähere Infos zum SIG-Dialogprojekt: www.likrat.ch


 

Jonathan Kreutner
Quelle: zVg
Jonathan Kreutner, SIG-Generalsekretär

Kommentare

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Erich Häring

01.04.2022, 15:01

Ein wichtiger Beitrag auch hier im forumKirche, der aufnimmt, was in Tageszeitungen immer wieder angesprochen wird: der wachsende Antisemitismus in der Schweiz. Gut verbunden damit auch auf Seite 14 dieser Ausgabe von forumKirche: The Jewish Mile - von Wolishofenbis nach Wiedikon, eine Begehung am 13. April 2022

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