Eine Depression muss niemand alleine bewältigen

Sie zählt zu den häufigsten psychischen Erkrankungen: Die Depression. Die Wahrscheinlichkeit, einmal im Laufe des Lebens an einer solchen affektiven Störung (Schwankungen der Stimmung und des Antriebs) zu erkranken, wird auf 20 Prozent geschätzt. Das bedeutet, jeder Fünfte von uns macht irgendwann eine Depression durch. 

Sie kann im jungen Erwachsenenalter und somit der Orientierungsphase entstehen, bei jedem Lebensübergang, einer Schwangerschaft, einer Geburt, bei Trennungen oder dem Tod einer nahestehenden Person. Genauso jedoch im Alter, wenn man pensioniert wird, seine Fähigkeiten verliert oder an Demenz erkrankt. Im Rahmen der letzten grossen Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2012 wies jeder vierte Thurgauer Depressionssymptome auf, jeder Zwanzigste befand sich in den zwölf Monaten vor der Befragung in ärztlicher Behandlung. 

Zwar werden die kantonalen Zahlen aus der aktuellen Gesundheitsbefragung 2017 erst Anfang des nächsten Jahres vorliegen, doch die zahlreichen Anfragen von Betroffenen, die Iva Zollinger heute schon erreichen, sind für sie eher Ausdruck eines Anstiegs der Depressionsfälle, denn einer Abnahme. Als Ostschweizer Regionalleiterin von Equilibrium (www.depressionen.ch, T 0848 143 144), dem Zuger Verein zur Bewältigung von Depressionen, hilft sie beim Aufbau von Selbsthilfegruppen, vermittelt bestehenden Gruppen Interessierte und gibt Recovery-Schulungen. «Für Menschen, die sich scheuen, gleich einen Facharzt zu kontaktieren, kann eine Selbsthilfegruppe ein erster Schritt sein, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Hat die Person jedoch schon Schwierigkeiten zur Arbeit zu gehen oder morgens aufzustehen, sollte ein Arzt aufgesucht werden», erklärt Iva Zollinger. Und sie fügt hinzu: «Je früher man eine Depression behandelt, desto schneller kann sie zum Abklingen gebracht werden.» Davon ist auch Ingeborg Baumgartner, Stellenleiterin der Selbsthilfe Thurgau in Weinfelden, die ebenfalls Selbsthilfegruppen auf den Weg bringt (s. Interview Seiten 2 und 3), überzeugt: «Depression ist heilbar, wenn man sie sich eingesteht und akzeptiert, dass man sich verändern muss.» 

Sich Hilfe suchen 

Eine erste Anlaufstelle für fachärztliche Hilfe kann die Hotline des Abklärungs- und Aufnahmezentrums AAZ in Münsterlingen (T 0848 41 41 41) sein. Hier melden sich sowohl Betroffene als auch Hausärzte oder Psychiater mit Überweisungsanfragen sowie Angehörige, Ämter, Wohnheime, Beratungsstellen oder Arbeitgeber. «Je nach Schwere der Erkrankung und Selbstgefährdung entscheiden wir, ob wir die Patienten direkt zu uns in die Klinik holen oder sie erst zu einem Gespräch einladen, um zu ermitteln, was für eine Unterstützung sie benötigen», erklärt Félice Haueter, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiterin des AAZsowie des Kriseninterventionszentrums. Menschen mit vorübergehenden Lebenskrisen können für maximal sieben Tage in das Kriseninterventionszentrum aufgenommen werden, um wieder auf die Beine zu kommen. Bei minderschweren Depressionen und einem stabilen häuslichen Umfeld wird oft eine ambulante Psychotherapie empfohlen. Dies gilt in der Regel auch für die Zeit nach einem längeren Klinikbesuch, damit den Patienten die Wiedereingliederung in den Alltag erleichtert wird. Für Patienten, die aufgrund schwerer psychischer Erkrankungen eine intensivere Therapie benötigen, gibt es die Möglichkeit eines stationären Aufenthaltes. Daneben gibt es noch eine Vielzahl an Tageskliniken im Kanton Thurgau, in denen depressive Patienten tagsüber unter der Woche behandelt werden, jedoch abends und am Wochenende zu Hause sind. «2017 hatten ungefähr 25 % unserer stationären Fälle die Hauptdiagnose einer affektiven Störung und rund 25 % unserer ambulanten Neueintritte. Dazu kommen die Fälle, in denen sich die Patienten primär mit einer anderen Erkrankung melden, wie zum Beispiel einer Alkoholabhängigkeit, hinter der sich jedoch oft eine Depression verbirgt», erklärt Félice Haueter.

Verunsicherung und Stärke 

Depressionsgefährdet sind ihrer Meinung nach vor allem Menschen mit wenig sozialen Bindungen, die sich schwer damit tun, sich anderen anzuvertrauen. «Ein starkes Beziehungsnetz ist besonders in unserer heutigen, immer schneller werdenden Gesellschaft mit ihrem erhöhten Leistungsdruck wichtig. Viele fühlen sich verloren und vereinsamen mehr und mehr», erklärt die Psychiaterin. Und sie ergänzt: «Früher gab der Glaube Sinn und Halt im Leben, nun muss man sich die Antworten selber suchen. Es ist viel weniger klar, wie das Leben läuft. Das verunsichert die Menschen.» Ähnliche Erfahrungen macht auch Kristina Grafström als katholische Seelsorgerin an der Clienia Littenheid AG, Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie sagt: «Religiöse Menschen, die an einer Depression leiden, haben oft das Gefühl, dass der Glaube nicht mehr sie trägt, sondern sie dafür den Glauben tragen müssen. Man muss ihnen zeigen, dass dieses Gefühl Teil ihrer Krankheit ist und der Glaube ihnen trotz allem Hoffnung geben kann.» 

Sarah Stutte

Stillstand Depression: In kleinen Schritten vorwärts gehen.
(Schriftzug Klaus Merz, offener Andachtsraum Friedhof
Rosenberg, Winterthur)

Stillstand Depression: In kleinen Schritten vorwärts gehen.
(Schriftzug Klaus Merz, offener  Andachtsraum Friedhof Rosenberg, Winterthur)

Bild: Sarah Stutte

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