Mit einem Neutestamentler im Gespräch

Der Zentralvorstand des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks (SKB) hat seit Anfang September einen neuen Präsidenten. Prof. Dr. Thomas Schumacher löste Prof. Dr. Birgit Jeggle-Merz ab. Er ist Professor für Neues Testament an der Universität Freiburg i. Üe. forumKirche fragte ihn, ob er als Wissenschaftler weiterhin offen ist für die spirituelle Seite der Bibel und was man heute noch bei der Erforschung der Bibel entdecken kann. 

Was hat Sie bewogen, vor 30 Jahren mit dem Theologiestudium zu beginnen?

Ein Hauptimpuls war für mich, dass das Theologiestudium die Möglichkeit bietet, sich mit Glaubensfragen auf eine reflektierte, wissenschaftlich verantwortete Weise zu befassen. Spannend war für mich auch die Breite der Theologie. Es gab bibelwissenschaftliche Fächer, Kirchengeschichte und damals in Freiburg i. Br., wo ich studierte, noch die christliche Archäologie, die mich als Thema sehr interessierte. Diese bunte Mischung ermöglichte es mir, mich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit Aspekten der Glaubensdeutung zu beschäftigen.
Ich hatte zuvor an der Pädagogischen Hochschule mit einem Lehramtsstudium begonnen und hatte während dieser Zeit schon sporadisch theologische Vorlesungen besucht. Begegnungen mit einzelnen Theologieprofessoren haben mich motiviert, diese Richtung einzuschlagen. Es war also eine Mischung aus besonderem Interesse und der Begegnung mit spannenden Menschen, die mich zum Theologiestudium führte. 

Sie haben sich auf das Neue Testament (NT) spezialisiert. Was faszinierte Sie daran? 

Am NT fand ich spannend, dass diese 27 Schriften das älteste schriftliche Zeugnis des Christentums darstellen. Mich hat vor allem die historische Perspektive auf das NT gereizt. Ich hatte ohnehin grosses Interesse an historischen Fragestellungen. Dass es schliesslich das NT wurde, hängt mit Personen zusammen, denen ich begegnet bin. 
Die ganz alten Texte, vor allem die von Paulus, haben mich besonders fasziniert, z. B. hinsichtlich der Frage, wie er mit seinen Gemeinden umgeht. Man sieht an den paulinischen Texten, dass das Christentum einen sehr dynamischen Anfang hatte. Das, was man Urkirche nennt, war kein ganz einfaches Projekt. 

Sie setzen sich jeden Tag denkerisch mit der Bibel auseinander. Kann sie Sie überhaupt noch als Glaubensbuch ansprechen?

Als Neutestamentler ist es nicht immer ganz einfach, diese beiden Bereiche auseinanderzuhalten, das tägliche exegetische Arbeiten mit diesen Texten und diese spirituelle Dimension. Beide Aspekte gehören für mich zusammen. Mir ist klar, dass ich mich anders mit den Texten auseinandersetze, wenn ich Exerzitien mache, als wenn ich exegetisch an irgendwelchen philologischen Fragen arbeite. Es ist wichtig, die beiden Ebenen auseinanderzuhalten. Von daher kann mich die Bibel auch als Glaubensbuch noch ansprechen.
Die Gefahr ist ja, dass das eine das andere verdrängt. Wenn man aus einer reflektierten Perspektive auf die Bibel schaut, können andere Zugänge überlagert werden. Im Gegenzug kann es auch sein, dass bei einem ausschliesslich spirituellen Zugang die wissenschaftliche Herangehensweise eher kritisch bewertet wird. Es gibt ja den bekannten Spruch: Studiere besser nicht Theologie, damit du den Glauben nicht verlierst. Ich kann diese Aussage verstehen, für mich traf sie allerdings nie zu. Ich erlebe es durchaus so, dass ich beide Aspekte miteinander verbinden kann.

Was kann man über die Schriften des NT fast 2000 Jahre nach ihrer Entstehung noch herausfinden?

Jede Generation hat eine eigene Art und Weise, die Bibel zu lesen. Jede Generation hat ihre eigenen Fragen. Allein die Frageperspektive verändert den Blick auf die biblischen Texte. Uns bewegen gegenwärtig z. B. Gender- und Umweltfragen. Eine grundsätzliche Neuorientierung der gesamten Theologie und damit auch der Bibelwissenschaft ergab sich vor dem Hintergrund der Shoah. Die Shoah hat ein Problembewusstsein dafür geschaffen, dass man sich vermeintlich antijudaistische Texte noch einmal genau vor Augen führen sollte. Von daher hat jede Epoche – auch jede Notsituation – in sich einen hermeneutischen Impuls, mit gegenwärtigen Fragen wieder zurück zu den Texten zu gehen. Eine weitere Aufgabe von Exegese ist es, etablierte Auslegungsmuster zu hinterfragen und sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. 

Sprache unterliegt Wandlungsprozessen. Das gilt für unsere Sprache genauso wie für die Sprache des NT. Wir haben in der Exegese eine gewisse Tradition, die Texte stark aus der Perspektive der Kirchenväter heraus zu lesen. Das hat zu bestimmten Auslegungsakzenten geführt, die erst durch historisch-semantische Verschiebungen ausgelöst wurden. Mir ist es wichtig, diese Texte sprachlich mit ihrem kulturellen Kontext in Verbindung zu bringen, dass man Sprachentwicklungen wahrnehmen kann, dass man nicht mit theologischen Ideen, die viel jünger sind als das NT, plötzlich zurückgeht an die alten Texte. Die ursprüngliche Aussage soll erkennbar sein. 

Können Sie ein Beispiel für eine sprachliche Verschiebung machen?

Im Rahmen meiner Dissertation habe ich mich stark mit dem Glaubensbegriff auseinandergesetzt. Wenn wir das Wort «Glauben» verwenden, denken wir zunächst an eine Bewegung, die auf etwas Göttliches gerichtet ist. Wenn man die entsprechenden Texte im NT anschaut, dann ist die Bewegung gerade umgekehrt, nämlich so, dass Gott mit seinem Zutrauen auf den Menschen zukommt. Gott bewegt sich also auf den Menschen zu, nicht der Mensch auf Gott. Das sind im Prinzip zwei unterschiedliche sprachliche Selbstverständlichkeiten.

Das SKB versucht, bei einer breiten Öffentlichkeit Interesse für biblische Geschichten und Aussagen zu wecken. Wie kann die Bibel den Alltag eines Menschen bereichern?

Damit die Bibel den Alltag bereichern kann, muss sie überhaupt dort ankommen. Sie muss als ein Buch wahrgenommen wird, in dem es ein breites Angebot an Denkmustern gibt, die gegenwärtig noch Impulse setzen können. Im Laufe der letzten 200 Jahren wurden Exegetinnen und Exegeten immer mehr als Experten betrachtet, die die richtige Lösung kennen, wie ein biblischer Text zu verstehen ist. Das hat dazu geführt, dass Gläubige der Bibel fragend gegenüberstehen. Wenn die Bibel den Alltag der Menschen bereichern soll, muss sie wieder zurück in deren Hände gelegt werden. Das ist mir als Neutestamentler wichtig. 

Welche Aufgaben kommen auf Sie als neuen Präsidenten des SKB zu?
Was ist Ihnen persönlich wichtig?

Eine wichtige Aufgabe ist es, die Bibel ins Gespräch zu bringen. Ziel des SKB ist es, die Bibel als Thema wach zu halten und Impulse zu geben, wie man sich biblischen Texten annähern kann. Ausserdem versuchen wir, die Bibelarbeit in der Pastoral durch den Aufbau eines Netzwerkes mit einem Expertenpool zu unterstützen, das bei unterschiedlichen Fragen zur Verfügung steht.
In der Abteilung «Spiritualität» von Buchhandlungen findet man vor allem Veröffentlichungen zu östlicher Meditation, Pilgern und Fasten usw. Wenn das Christentum zukunftsfähig sein soll, muss wieder deutlich werden, dass die Bibel eine grosse Bandbreite an spirituellen Impulsen zu bieten hat. Sie bleibt ein kostbarer Schatz, den es zu heben gilt. 

Interview: Detlef Kissner (1.10.19)


 

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Prof. Thomas Schumacher: «Die Bibel hat eine grosse Bandbreite an spirituellen Impulsen.»

Bild: zVg

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