Wenn ein Ausweis den Alltag einschränkt

Fünf junge Eritreer erzählen auf einem Rundgang durch die Stadt Schaffhausen von den Tücken als Besitzer eines F-Ausweises für vorläufig aufgenommene Ausländer. 

Es ist bereits drückend warm an diesem Junimorgen um 10.30 Uhr in der Altstadt Schaffhausens. Es herrscht das übliche samstägliche Gewusel. Am Stand des Vereins Schaffhauser Menschenrechtstage hat sich ein Trüpplein Leute eingefunden. Ich werde von fünf jungen Eritreern sowie einigen Mitgliedern des Vereins empfangen mit Gewürztee und Wasser sowie Hmbasha, einem süssen Hefeteigbrot mit einem Hauch von Gewürzen drin. 

Anna Brügel vom Verein begrüsst uns. Sie stellt die fünf jungen Männer vor, die unter anderen diesen Rundgang angeregt haben : Samuel Negasi, Gere Gidey, Kubrom Kesete, Elyas Fissha und Merhawi Beyan.* Sie alle sind als Jugend­liche aus ihrem Heimatland Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Seit rund zehn Jahren leben sie in der Schweiz, haben eine Aus­bildung als Reifenpraktiker, Gipser, Maurer, Fachmann Betriebsunterhalt sowie Heizungs­installa­teur absolviert, arbeiten, machen Weiter­bildungen, sprechen Deutsch, sind in Vereinen aktiv, nehmen also am gesell­schaftlichen Leben teil. Gelungene Integrations­geschichten, würde man auf den ersten Blick meinen. 

F-VAA-Ausweis als Hindernis
Es gibt allerdings einen Haken : Sie haben noch immer den F-Ausweis für vorläufig aufgenommene Ausländer (F-VAA-Ausweis). Diesen Status erhalten Personen, die persönlich in ihrem Herkunftsland nicht in asylrelevanter Weise verfolgt werden, für 12 Monate. Er kann jeweils für 12 Monate verlängert werden. Gemäss Genfer Flüchtlingskonvention erfüllen diese Personen die Kriterien eines Flüchtlings nicht. Dennoch ist es Menschen mit dem F-VAA-Ausweis nicht möglich, in ihr Herkunftsland zurückzukehren – weil dort beispielsweise Krieg herrscht. Sie erhalten in der Schweiz einen gewissen Schutz – und zwar vorübergehend. Die Idee dahinter : Entweder kehren sie bald in ihre Heimat zurück oder sie erlangen einen anderen Status. Eine Status- bzw. Ausweisänderung ist jedoch nur möglich, wenn sie gültige Identitätspapiere, d.h. einen Pass vorlegen.

Wieso die fünf jungen Männer noch immer den F-VAA-Ausweis haben, wird uns klar, als Anna Brügel erzählt, was die Bedingungen der eritreischen Botschaft in Genf sind, um gültige Identitätspapiere zu erhalten : Die jungen Männer müssten eine Reueerklärung unterschreiben für die Diktatur, vor der sie geflohen sind. Sie wären gezwungen, eine Diaspora-Steuer von zwei Prozent ihres Lohnes an Eritrea zu entrichten – auch rückwirkend für die gesamte Zeit in der Schweiz – und die Kontaktangaben ihrer Familien preiszugeben. Letzteres bedeutet, dass die Angehörigen in Eritrea bedroht oder bestraft würden, sollten sich die Männer in der Schweiz regierungskritisch über ihre Heimat äussern. Die Schweiz erachtet es für Personen mit F-VAA-Status als zumutbar, sich auf der entsprechenden Botschaft Identitätspapiere zu beschaffen, da sie nicht als Flüchtlinge gelten. 

1. Station : Vignette und Autonummer
Nach diesen Informationen setzt sich unser Trüpplein in Bewegung und marschiert zum ehemaligen Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt. Anna Brügel hebt ein Bild in die Höhe mit einer roten Zusatznummer auf einem Autonummernschild. Merhawi und Elyas erklären, dass Menschen mit einem F-VAA-Ausweis ein Nummernschild mit dieser Zusatznummer erhalten. Dieses Nummernschild und der Fahrzeugausweis müssen jährlich neu beantragt werden, denn die rote Zusatznummer läuft wie eine Autobahnvignette ab. Um das zu organisieren, müssen sie einen halben Tag frei nehmen. Anna Brügel erklärt, dass diese Praxis kantonal geregelt ist und das Wallis sie ebenfalls kennt.

2. Station : Baustelle Ausbildung
Wir setzen uns wieder in Bewegung und kommen miteinander ins Gespräch, da uns das Gehörte zu denken gibt. Die jungen Männer geben uns bereitwillig Auskunft. Vor der Kammgarn, der ehemaligen Kamm­garnspinnerei, die zum Kulturgüter-Schutz gehört und die zurzeit umgebaut wird, gibt es den zweiten Halt. Anna Brügel erklärt, dass der Weg zu einer Ausbildung und Arbeit schwierig ist. Arbeitgeber sind verunsichert, weil sie nicht wissen, wie lange sie ihren Mitarbeiter mit F-VAA-Ausweis haben werden, da der Ausweis befristet ist. Dazu kommen weitere Schwierigkeiten, von denen Elyas berichtet : « Mit einem F-VAA-Ausweis ist es verboten, mit dem Auto über deutsches Gebiet zu fahren. Die Grenze darf nur in einem öffentlichen Verkehrsmittel übertreten werden, und dann auch nur, wenn man nicht in Deutschland aussteigt respektive es gar keinen Halt in Deutschland gibt. Da solche Einschränkungen in einem Grenz­kanton wie Schaffhausen schwierig zu hand­haben sind respektive einen grösseren Zeitverlust bedeuten, wenn man während der Arbeits­zeit einen Umweg über Schweizer Gebiet fahren muss, zögern viele Arbeit­geber, einen Menschen mit F-VAA-Ausweis einzustellen. Viele Jobs erfordern aber ein tägliches Fahren in einem Firmenwagen, man denke nur an Gärtner, Handwerker, Maurer. Schon beim Bewerbungsgespräch muss das alles thematisiert werden. »

Elyas berichtet von einem schlimmen Tag für ihn : « Ich hatte meinen Chef gewarnt, dass ich nicht über deutsches Gebiet fahren darf. Der Chef befahl mir mitzukommen. Er sagte, er werde sich darum kümmern. Auf der Rückfahrt wurden wir kontrolliert, der Chef aber zeigte keine Reaktion und liess es zu, dass ich von den deutschen Behörden an einen unbekannten Ort mitgenommen und verhört wurde. Ich musste mich ausziehen, man nahm meine Fingerabdrücke. Ich war hungrig, aber es gab an diesem Ort nichts zu essen. Als ich endlich gehen durfte, musste ich zum nächsten Bahnhof marschieren. » An der Schweizer Grenze wurde er von der Schweizer Polizei aufgegriffen. Niemanden interessierte es, wie es ihm erging.

Auf dem Weg zur nächsten Station erklärt er mir auf Nachfrage : « Ich habe damals geschnuppert und darauf den Job nicht angetreten, weil der Chef sein Versprechen gebrochen hat. Die Konsequenzen aber musste ich tragen, denn das RAV hat mir deshalb Sperrtage verordnet. »

3. Station : Bermudadreieck
Mittlerweile sind wir vor einem Nachtclub angekommen. Die Gegend wird Bermudadreieck genannt, da sich in Gehdistanz verschiedene Ausgehmöglichkeiten befinden. Anna Brügel sagt : « Hier sind junge Menschen am Donnerstag-, Freitag- und Samstagabend unterwegs. Euch sieht man hier oder auch sonst in Ausgehlokalen kaum. Woran liegt das ? » Merhawi erzählt, wie er mit Elyas und einem Tibeter aus der ehemaligen Schulklasse vor einigen Monaten in den Ausgang gehen wollte. Der Türsteher eines der Clubs verweigerte den beiden Eritreern den Zutritt, nur der tibetische Kollege wurde eingelassen. Man wolle keine Schlägereien, hiess es. Auf Nachfrage erfuhren sie, dass der Türsteher zum Kollegen gesagt hatte, ihre Ausweise seien nicht gültig. Dabei hatte er sie gar nicht angeschaut. Ein anderes Mal erhielten sie keinen Einlass, weil verlangt wurde, sie müssten Frauen mitbringen – andere konnten aber hinein ohne Frauen. Einer der Clubs setzt einen B-Ausweis als Eintrittsbedingung voraus.

4. Station : Versicherungen
Unser nächster Halt ist vor dem Gebäude einer Versicherung. Anna Brügel erklärt, dass wir stell­vertretend für irgendeine Versicherung hier stehen. « Mit unserer speziellen Auto­nummer können wir keine Teil- oder Vollkasko­versicherung abschliessen », erzählt Elyas. « Für uns gibt es nur eine normale Haftpflichtversicherung, die aber doppelt so teuer ist wie eure. Sie kostet 1'300 Franken im Jahr. » Empört fragen wir Zuhörenden, weshalb das so ist. « Auf Nachfragen heisst es seitens der Versicherungen, es fehle beispielsweise eine Schadenshistorie und es gebe statistische Hinweise darauf, dass Menschen ohne Schweizer Pass ein höheres Unfall­risiko aufwiesen », antwortet Brügel. Mittlerweile ist nicht nur die Luft aufgeheizt. 

5. Station : Handy-Abo
Um uns vor der Hitze und den Einkaufen­den in der Vorstadt zu bewahren, bittet uns Anna Brügel, am Ende der schattigen Karstgasse stehen zu bleiben. « Richtung Fronwagplatz hat es verschiedene Tele­kommuni­kations­unternehmen. Wie sieht es aus mit eurem Handy-Abo ? », fragt sie die jungen Eriteer. Kubrom sagt : « Wir können kein Handy-Abo lösen. Wir brauchen einen Freund, der uns eines in seinem Namen erwirbt. » Auf unsere Nachfrage erläutert Brügel, dass sich die Anbieter hier auf die privatrechtliche Vertragsfreiheit und die Risikobeurteilung stützen und darum in der Regel nur ein Prepaid-Abo für Menschen mit F-VAA‑Ausweis anbieten. 

Diskutierend spazieren wir zurück zum Stand. Dort fasst Anna Brügel noch einmal den Rundgang zusammen : « Samuel, Gere, Kubrom, Elyas und Merhawi erleben mit ihrem F-VAA-Status tägliche Hürden, die sie in ihrem Leben einschränken. Dies, weil sie nicht mit dem eritreischen Regime zusammenarbeiten können und wollen, da ihnen und ihren Familien sonst Repressionen drohen. Uns von der Arbeitsgruppe der Schaffhauser Menschenrechtstage ist es wichtig, dass wir ihnen eine Stimme geben und der Öffentlichkeit bewusst machen, dass die Passbeschaffung auf der eritreischen Botschaft für Eritreerinnen und Eritreer mit einem F-VAA-Ausweis eine unlösbare Aufgabe darstellt. Wir setzen uns dafür ein, dass sich die Politik hier in der Schweiz ändert. »

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 11.08.2025

*An der Vorbereitung der Stadtführung waren zusätzlich folgende Personen beteiligt : Daniel Tesfalem, Okbagabir Kesete, Kubrom Tesfay und Senayt Habta.


Unterstützung der Eritreer mit F-VAA-Ausweis

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat den Schaffhauser Menschenrechtstagen auf deren briefliche Anfrage geschrieben, die Passbeschaffungspflicht sei gesetzliche Grundlage. Es sei sich aber der Schwierigkeiten bewusst, die eritreische Staatsangehörige bei den heimatlichen Behörden haben können. Deshalb arbeite eine interdeparte­mentale Arbeitsgruppe an Abklärungen zum Eritrea-Dossier.
Der Gang zur Rechtsberatungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht hat ergeben, dass die jungen Eritreer alle weiteren Anforderungen für das Einreichen eines Härte­fallgesuchs, das für eine ordentliche Aufenthalts­bewilligung benötigt würde, vielversprechend erfüllen würden. Es wurde auch mehrfach versucht, ein solches Härtefall­gesuch ohne einen vorhandenen Pass einzureichen, leider war dies nicht erfolgreich.

Auch der Kontakt mit dem Migrationsamt des Kantons Schaffhausen ergab keinen Handlungsspielraum.

An der Stadtführung in Schaffhausen haben unter anderen auch drei Politikerinnen teilgenommen – eine Gross­stadträtin, eine Kantonsrätin und eine Nationalrätin. Sie überlegen sich, Vorstösse auf städtischer, kantonaler und landesweiter Ebene auszuarbeiten. 

Anna Brügel mit fünf Eritreern am Stand der Schaffhauser Menschenrechtstage in Schaffhausen
Quelle: Doris Brodbeck
Samuel Negasi, Gere Gidey, Kubrom Kesete, Elyas Fissha, Merhawi Beyan und Anna Brügel am Stand der Schaffhauser Menschenrechtstage

 

Autonummer mit roter Spezialnummer für Autolenkende mit F-VAA-Ausweis
Quelle: Okbagabir Kesete
Autonummer mit roter Spezialnummer für Autolenkende mit F-VAA-Ausweis

 

Versicherungsgebäude in Schaffhausen
Quelle: Béatrice Eigenmann
Versicherungen schliessen Menschen mit F-VAA-Ausweis von einer Teil- oder Vollkaskoversicherung aus. Sie erlauben nur eine normale Haftpflichtversicherung - zum doppelten Preis.

 

Bermudadreieck in Schaffhausen, das Ausgehviertel
Quelle: Béatrice Eigenmann
Das Ausgehviertel in Schaffhausen, auch Bermudadreieck genannt

 

Kommentare

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Erich Häring

15.08.2025, 19:13

Ein guter Beitrag. Er macht mich nachdenklich. Zur Zeit lese ich ein Buch. CLAUDE BRAUN und MICHAEL RÖSSLER: Cornelius Koch - Ein unbequemes Leben. 1972 habe ich Cornelius Koch in Neuhausen am Rheinfall kennen gelernt. Als Auslandschweizer in Rumänien geboren, musste seine Familie fliehen. Die Geschichte als Schweizer mit langen bürokratischen Querelen endlich in der Schweiz in einem obrigkeitsstaatlichen Entschluss einen Ort zugewiesen zu bekommen, ist eine ganz eigene Geschichte. Cornelius Koch wurde Priester des Bistums Basel. Er hat sich jahrelang für Migranten und ihren Aufenthalt in der Schweiz eingesetzt. Er war unbequem in jeder Hinsicht, konnte aber immer wieder kleine Verbesserungen erarbeiten. Er erhielt Unterstützung von einigen protestantischen Pfarrern, von Dimitri, von Dürrenmatt, Ziegler, einmal von einem Weihbischof des Bistums Basel, Joseph Candolfi, von vielen italienischen Priestern, mit den Behörden, auch offiziellen kirchlichen Hilfsorganisationen dagegen Widerstand. Hingegen haben ihm mit Geld und auch Aufnahmen in eigene Wohnungen immer wieder Menschen geholfen. Menschen mit einer und ohne Religion. Cornelius Koch ist vor 24 Jahren im 60. Lebensjahr in Basel gestorben. Nach 24 Jahren lese ich diesen Bericht. Natürlich denke ich: Immer noch diese Hindernisse wie damals, 1972, vor 53 Jahren. - Was mir aber noch wichtiger ist: Gibt es in Schaffhausen eine Adresse, um mit Spenden oder auch ideeller Hilfe mit Solidarität weiterhelfen kann?

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