Menschen mit Behinderung und ihr Platz in der Kirche

Am 5. Mai wird der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung begangen. forumKirche nahm diesen Aktionstag zum Anlass nachzufragen, wie offen Kirchen und kirchliche Einrichtungen für Menschen mit körperlichen Einschränkungen sind, was sich verbessern liesse und wie die Integration solcher Gruppen das Miteinander in der Kirche bereichern kann. 

In einer Botschaft zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung hat Papst Franziskus am 3. Dezember 2019 zu weiteren Anstrengungen um eine gesellschaftliche Beteiligung von Menschen mit Behinderung aufgerufen. Es brauche «Antikörper gegen eine Kultur, die (menschliche) Leben in solche erster und zweiter Liga einteilt». Der Papst erinnerte an die vielen «versteckten Exilanten», die oftmals in den Häusern und Familien vergessen würden. Er rief dazu auf, «in jeder Person mit Behinderung, auch mit einer schweren und komplexen, deren einzigartigen Beitrag zum Gemeinwohl anzuerkennen.» Doch welche Erfahrungen machen Menschen mit Behinderung in der Kirche selbst? Welche Beachtung finden sie dort? Wie wird für sie gesorgt? 

Der Umweg über das Seitenportal 
Werner Ruch (64) aus Gommiswald (SG) weiss, was es heisst, vor einer Treppe kapitulieren zu müssen. Durch eine Erkrankung an Polio (Kinderlähmung) ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Weh tut es ihm, dass er bei vielen Kirchen und kirchlichen Einrichtungen den Seiteneingang benutzen muss. «Die grosse Masse darf über das Hauptportal eintreten», schildert er seine Enttäuschung. Der Umweg über den Seiteneingang hat für ihn darüber hinaus – ganz praktisch – den Nachteil, dass er die Menschen nicht mehr antrifft, mit denen er nach einer Veranstaltung gerne geredet hätte. Solche Erfahrungen haben ihn dazu angetrieben, sich für behindertengerechte Zugänge in Kirchen und Gemeindehäusern einzusetzen. «Die Verantwortlichen sind dafür grundsätzlich offen, aber dann folgen bauliche Bedenken, finanzielle Einschränkungen oder das Denkmalamt», beschreibt er die Reaktionen auf seine Initiativen. Dort, wo Massnahmen durchgeführt werden, kann es sein, dass sie ungenügend sind. «Als Fussgänger nimmt man Hindernisse einfach anders wahr als aus der Perspektive eines Rollstuhlfahrers», sagt Werner Ruch. Deshalb wünscht er sich, dass Gehbehinderte bei der Planung von solchen Bauvorhaben miteinbezogen werden. 

Dialog ist wichtig 
Eines der grössten Projekte ist für ihn die Umgestaltung des Klosterplatzes von Einsiedeln. Durch seine Eltern und Zeiten, in denen er die Klosterkirche als persönlichen Zufluchtsort erlebt hat, ist ihm dieser Ort besonders ans Herz gewachsen. Im letzten Jahr sammelte er mit grossem Engagement Spendengelder in der Höhe von 130'000 Franken, damit der grosse Platz auch für Rollstuhlfahrer zugänglich wird. Auch wenn er sich von der Klosterleitung mehr Unterstützung gewünscht hätte, ist er froh, dass der Bau der hindernisfreien Wege auf dem oberen Platz letzten November begonnen hat. Noch fehlen weitere Gelder, damit diese Wege bald bis zum Abteihof fertiggestellt werden können (Nähere Infos: www.hindernisfreier-klosterplatz.ch). «Im Unterscheid zu den baulichen Barrieren sind die inneren weitgehend abgebaut», findet Werner Ruch. So erlebt er eine grosse Hilfsbereitschaft in kirchlichen Kreisen. Auch wenn es ihm nicht immer leichtfällt, hat er im Laufe der Zeit gelernt, Hilfe von anderen anzunehmen. Menschen, deren Hilfe einmal abgelehnt wurde, ermutigt er, sie bei der nächsten Gelegenheit trotzdem wieder anzubieten. «Der Dialog ist das A und O. Es ist wichtig, dass wir uns unsere Bereitschaft, Motivation und Wünsche gegenseitig mitteilen», so Ruch. Betroffen macht ihn, wenn er mit dem Hinweis, dass eine Teilnahme für Leute im Rollstuhl nicht möglich sei, von einem Anlass wie einer Pfarreireise ausgeschlossen wird. «Ich bin er fahren genug, selbst einschätzen zu können, was ich kann und wann meine Grenzen erreicht sind», sagt Werner Ruch.   

Eine Vision 
Auch wenn er kein grosser Kirchgänger ist und unterschiedliche Erfahrungen mit der Kirche gemacht hat, ist diese für ihn dennoch ein Stück Heimat. Begegnungen mit Menschen in der Behindertenseelsorge Zürich oder bei der Lourdes-Wallfahrt haben entscheidend dazu beigetragen. In Lourdes fühlt er sich besonders wohl. In der Bernadette-Kirche entdeckte er eine Rampe, die in den Altarraum hinaufführt. Dieses Bild bewegt ihn bis heute. «Wenn ich in einer Kirche sitze, überlege ich mir immer wieder, wie man hier eine Rampe zum Altarraum hinauf bauen könnte. Dann könnte auch ein Priester im Rollstuhl oder ich mit ihm zum Altar hochfahren und gemeinsam Gottesdienst feiern.» 

Evangelium als Rollenspiel 
Lotti Blum (76) aus Egnach begleitet als Seelsorgerin schon viele Jahre taubblinde Menschen. Für sie ist klar, dass diese Menschen eine auf sie zugeschnittene Seelsorge benötigen, die sie behutsam an liturgische Formen heranführt. Bei Förder- und Begegnungskursen bringt sie sich mit ihnen auch in den Gottesdienst der Gemeinde vor Ort ein. Dabei sind taubblinde Menschen aktiv Mitfeiernde: Sie verkünden die frohe Botschaft in einer Art Rollenspiel, gehen auf Mitfeiernde zu, stehen mit dem Priester am Altar und laden die Gemeinde ein, das Vaterunser mit Gesten zu singen. Diese Gottesdienste sind geprägt von Freude und Zuversicht. Mitfeiernde sind berührt und melden oft, dass sie das Evangelium ganz neu verstehen. 

Einfache Worte 
Wie können Pfarreien sich öffnen für Menschen mit Sinnesbehinderungen? Lotti Blum rät dazu, in der Gemeinde nach ihnen Ausschau zu halten. Es gäbe zum Beispiel viele ältere Menschen, deren Gehör mit der Zeit schlechter geworden sei und die sich aus diesem Grund mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hätten. Als erstes gelte es, auf sie zuzugehen und sie zu fragen, ob der Kontakt zur Gemeinde erwünscht sei. Ist eine Brücke gebaut, kann auch eine Einladung zu einem Gottesdienst oder einer Veranstaltung erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass blinde Menschen unter Umständen eine Begleitung brauchen. «Sie sind ausserdem darauf angewiesen, dass man nach dem Gottesdienst auf sie zugeht und sie anspricht», so Blum. Es könne auch ein Gewinn für eine Gemeinde sein, wenn ein blinder Mensch das Evangelium vorliest. Gehörlose haben mehr von einer Veranstaltung, wenn ein*e Gebärdendolmetscher*in übersetzt oder ihnen wichtige Texte wie Evangelium, Predigt, Ansprache in gedruckter Form übergeben werden. «Wenn wir Menschen mit Sinnesbehinderungen in unsere Gottesdienste einladen, fordert uns das auch heraus», gibt Lotti Blum zu bedenken. Oft wird viel zu schnell gebetet. Wenn das Vaterunser gesungen wird, stimmt das Tempo. Mehr Sprechpausen helfen der Verständigung enorm. Davon profitieren auch die älteren Menschen. Beim Übersetzen für Taubblinde nimmt Lotti Blum wahr, ob eine Predigt Wesentliches aussagt. Sie ermutigt zu einfachen Botschaften, die mit Leben gefüllt sind: «Solche Worte tun nicht nur behinderten Menschen gut.» 

Lösung in Aussicht 
Wie schwierig es sein kann, einen behindertengerechten Zugang zu einer Kirche zu realisieren, zeigt das Beispiel von Münsterlingen. «Das Thema ist schon 30 Jahre alt», erzählt Otto Braun, Präsident der Kirchengemeinde Altnau-Güttingen-Münsterlingen. Mehrere Projekte sind schon gescheitert, zum Teil wegen der Denkmalpflege, da die Kirche dem eidgenössischen Schutz unterstellt ist, zum Teil wegen der hohen Kosten. So musste man die letzte Idee, einen Zugang durch das angebaute Spital zu realisieren, schliesslich aufgeben, weil die Sicherung einzelner Türen zu teuer gewesen wäre. Doch nun soll ein Lift in einem Nebenraum der Kirche eingebaut werden, der gehbehinderten Besucher*innen den Zutritt zur Kirche ermöglicht. «Die ersten Abklärungen mit den verschiedenen Behörden sind positiv verlaufen», sagt Otto Braun. Auch die Kirchbürger*innen zeigten sich dieser Variante gegenüber offen und genehmigten im letzten Jahr einen Planungskredit. Der Präsident der Kirchenvorsteherschaft hofft nun, dass im Laufe des Jahres alle Planungen abgeschlossen werden und in der Budgetversammlung der Umbau mit 170'000 Franken (Kostenschätzung) genehmigt wird. «Dann können wir nächstes Jahr mit dem Einbau des Lifts beginnen.»  

Hilfe im Netzwerk  
Auch in der Pfarrei St. Anna, Frauenfeld hat man Menschen mit Beeinträchtigung im Blick. «Die Kirchen der Pfarrei sind für Rollstuhlfahrer zugänglich. Im Klösterli gibt es einen Aufzug», sagt Christoph Oechsle, Leiter Diakonie im Seelsorgeteam. Besonders wertvoll ist für ihn die Kooperation mit Pro Infirmis, der Beratungsstelle für Menschen mit Beeinträchtigung. Wenn Menschen spezifische Unterstützung benötigen, kann er sie dorthin weitervermitteln. Umgekehrt kann er in seiner Sozialberatung zusätzlich finanzielle, materielle und organisatorische Unterstützung bieten, die durch einen Hilfsfond der Pfarrei finanziert wird. Darüber hinaus organisiert die Pfarrei zusammen mit anderen Netzwerkpartnern wertvolle Hilfsangebote, die auch Menschen mit Beeinträchtigung zugutekommen, wie z. B. das Tischlein-deck-dich im Pfarreizentrum Klösterli, die Mitarbeit im Gemeinschaftsgarten oder den von Freiwilligen getragenen Besuchsdienst.  

Detlef Kissner (27.04.20)
 

 

Werner Ruch
Werner Ruch vor der Klosterkirche Einsiedeln.

Bild: zVg

 

 

 

 

 

 

 

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Taubblinde Menschen fühlen, was andere hören und sehen, wie hier bei einem Gottesdienst
in Sachseln.

Bild: zVg

 

 

 

 

 

 


Kirche Münsterlingen
Menschen mit Gehbehinderung können bisher nicht in die Kirche von Münsterlingen kommen.
Die Kirchgemeinde möchte dies nun ändern.

Bild: Detlef Kissner

 

 

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