Breite regionale Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge

In vielen Orten im Thurgau und in Schaffhausen wurden in den letzten Wochen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Auch die Kirchen engagieren sich. Ein Besuch vor Ort bei der Kirchgemeinde Kreuzlingen-Emmishofen, die einer 22-köpfigen Frauengruppe langfristig Wohnraum zur Verfügung stellt, sowie im Café Grüezi in Sirnach, wo sich Ukrainer*innen treffen können. 

Es ist ein Montagmorgen Anfang April, 9.30 Uhr, Stefanshaus Kreuzlingen. Im grossen Saal herrscht schon ein reges Treiben. Viele Kinderstimmen erfüllen den Raum. Manche beschäftigen sich auf dem Boden mit Spielzeug, andere tollen herum, einige werden von ihren Müttern im Auge behalten. An einem Tisch sitzen zwei Ordensschwestern, die sich beide als Maria vorstellen und dabei lächeln. Neben ihnen Platz genommen haben Simon Tobler, Verwaltungsleiter der katholischen Kirchgemeinde Kreuzlingen, sowie Pfarramtssekretärin Antonella Certangolo. Sie kann sich mit den Nonnen auf Italienisch verständigen und hat deshalb angeboten, das Gespräch mit ihnen zu übersetzen. 

Flucht über Ungarn
Spätabends am 12. März kamen die Schwestern, zusammen mit sechs Müttern und ihren 14 Kindern, in Kreuzlingen an – nach einer dreitägigen Flucht aus der Ukraine in die Schweiz. In der südwestlichen Stadt Iwano-Frankiwsk lebten sie in einem Frauen- und Waisenheim, das von den Nonnen geführt wurde. Da in der Gegend ein Militärflughafen stationiert ist, wurde das Gebiet schon am ersten Tag des Kriegsausbruchs bombardiert. «Jedesmal wenn die Sirenen losgingen, versteckten wir uns», sagt eine der beiden Ordensfrauen, Maria Mukachivska. Dazu zeigt sie Bilder, wie sich die Frauen und Kinder im Keller des Gebäudes zusammenkauern. Nach zwei Wochen seien die Angriffe dann immer näher gekommen, erzählt ihre Mitschwester Maria Neustannoi Pomoci, weshalb sie sich zur Flucht entschlossen hätten. Sie sucht ebenfalls auf ihrem Handy nach einer Aufnahme, um ihre Worte zu unterstreichen. Dann hält sie ein Foto hoch, auf dem die Explosion eines Wohngebäudes zu sehen ist. «Hier. Diese Bombe schlug unweit des Hauses meines Vaters ein.» Immer mehr Bilder der Verwüstung erscheinen auf dem Display. Von einem früheren Kinderspielplatz in der Ortschaft, von dem nichts geblieben ist. Doch auch von den letzten Tagen vor der Flucht, mit lachenden Kindern auf dem Grundstück.

Argentinischer Frauenorden
Die Gruppe versucht erst, mit dem Bus nach Polen zu gelangen, doch der Grenzübergang ist geschlossen. Die Frauen kehren um und überqueren nachts und zu Fuss die ungarische Grenze. Am schlimmsten sei die Kälte gewesen, sagt eine der Schwestern – bei minus 10 Grad unterwegs mit Kleinkindern. Mit einem Bus des Malteser Hilfsdienstes kommen sie bis Budapest und fahren einen Tag später frühmorgens mit dem Zug nach Wien. Bei ihrer Ankunft unterstützt sie die österreichische Caritas – auch für ihre Weiterreise nach Zürich. Dort werden sie schliesslich von einem Ehepaar aus Sirnach abgeholt und von der Kirchgemeinde Kreuzlingen-Emmishofen in Wohnungen im Stefanshaus sowie im Priesterhaus Bernrain untergebracht. «Wir haben der Peregrina-Stiftung früh gemeldet, dass wir genug Platz haben, um Flüchtlinge langfristig bei uns aufnehmen zu können», erzählt Simon Tobler. Kaum habe man angefangen, alles einzurichten, kam die Nachricht der Stadt, dass die Gruppe auf dem Weg zu ihnen sei. Dass die Nonnen der römisch-katholischen Kirche angehörten, wusste Simon Tobler vorher nicht. Ihr Frauenorden wurde in den 1980er-Jahren in Argentinien gegründet und verbreitete sich rund um die Welt. In der Ukraine betreuen die Matará-Schwestern seit 1999 zwei Häuser für Mütter und Kinder, ein Waisen- und ein Schwesternhaus sowie verschiedene Schulen. 

Traditionelles Ostergewand
Inzwischen hätten sich die Geflüchteten gut eingelebt, meint Simon Tobler. «Unser Ziel war immer, dass sie schnell selbständig sind und so ihren eigenen Rhythmus wiederfinden.» Und wie gestalten die Schwestern hier ihren christlichen Alltag? «Sie gehen täglich in den Gottesdienst. Zudem planen wir eine monatliche Messe auf Ukrainisch», so Tobler. Auch das Osterfest soll erst zusammen mit den Gastgebern gefeiert werden und dann traditionell mit anderen Mitschwestern ihres Ordens, die mittlerweile im Kloster Fischingen untergekommen sind. In der Ukraine habe diese Feier nämlich anders und zudem erst eine Woche später, am Weissen Sonntag, stattgefunden. «Wir haben mit den Müttern zusammen für alle Kinder einen Osterkorb gebastelt und diesen mit Käse, Salami, Süssgebäck und Eiern gefüllt», erklärt Maria Mukachivska. Die beiden Nonnen wirken plötzlich gelöster und freuen sich darüber, Fotos von den Kindern in speziell bestickten Ostergewändern zu zeigen. Das hoffnungsvolle Thema verändert die Stimmung und lässt sie für einen Moment das Grauen des Kriegs vergessen. 

Szenenwechsel: Café Grüezi in Sirnach
Stimmengewirr dringt aus dem Café Grüezi, das mit jeder Treppenstufe, die man höher steigt, lauter wird. Auch hier spielt in einem kleinen Nebenraum eine Handvoll Kinder. Durch eine einfach eingerichtete Küche erreicht man einen Saal, in dem sich über 20 Erwachsene – vorwiegend Frauen – in einer grossen Tischrunde angeregt unterhalten. Im Café Grüezi, das von der katholischen und evangelischen Kirchgemeinde getragen wird, treffen sich jeden Mittwochabend Einheimische und Menschen aus verschiedenen Ländern. Doch heute, am Donnerstagabend, sind vorwiegend Menschen hierhergekommen, die aus der Ukraine geflohen sind und in Sirnach eine Bleibe gefunden haben. «Es ist bereits das zweite Treffen dieser Art», erklärt Dagmar Cadonau, die sich um die Organisation dieser Zusammenkunft kümmert. Sie hat selbst zwei Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen. Oksana Häfliger, die auch aus der Ukraine kommt, aber schon 15 Jahre in der Schweiz lebt, erklärt den Anwesenden, welche Einrichtungen es hier gibt und was sie im Alltag beachten müssen. Auf einigen Tischen liegen Kleider und Lebensmittel, die die Anwesenden im Anschluss an die Runde mitnehmen können. 

Sorge um die Zurückgebliebenen 
Juliya Federova lebte vor wenigen Wochen noch in der Region um Odessa. Der Krieg zwang sie und ihren Mann, aus ihrer Heimat zu fliehen. Nun leben sie bei Familie Cadonau in Sirnach, wo sie sich sehr wohlfühlen. In zwei Monaten erwarten sie ihr erstes Kind. «2001 habe ich Deutsch studiert», erzählt Juliya Federova. Die letzten sieben Jahre war sie in der Politik tätig. Zunächst engagierte sie sich in einem Gemeinderat und danach unterrichtete sie Politikwissenschaften. Ihre Eltern sind in der Ukraine geblieben. Sie berichten ihr, wie sie sich nachts mehrfach in Sicherheit bringen müssen oder tagsüber Raketen über sie hinwegfliegen. Sie ist auch mit Freund*innen und Kolleg*innen aus verschiedenen Städten wie Odessa, Charkiw oder Mariupol in Kontakt: «Es geht nicht allen gut.»

Vorfreude auf Ostern
Juliya Federova gehört der orthodoxen Kirche an, «der ukrainischen, nicht der Moskauer», wie sie betont. Sie ist überzeugt, dass Gott die Ukrainer schützt. Dennoch müsse man etwas unternehmen. So versuche sie auch aus der Ferne, die Menschen in der Ukraine mit Informationen und Kontakten zu versorgen. 
In der Fastenzeit verzichtet die junge Frau auf Fleisch, Fisch und Eier. Vor Ostern hat sie jedes Jahr Eier gefärbt, selber Wurst gemacht und das Osterbrot gebacken. Das ist in der Ukraine so Brauch. Diese Speisen werden dann in der Osternacht gesegnet. «Der Gottesdienst beginnt bei uns um Mitternacht und dauert bis Sonnenaufgang», erzählt Juliya Federova. «Aber manche kommen erst am Ende der Messe dazu, um ihr Körbchen mit Speisen vor der Kirche segnen zu lassen», ergänzt Oksana Häfliger schmunzelnd. Für Juliya Federova ist es «selbstverständlich», dass sie auch dieses Jahr Ostern feiert - zuerst das katholische Osterfest und eine Woche später das orthodoxe. 

Zerrissen
Valentina Velychko hat sich von Tscherkassy aus, einer Stadt südöstlich von Kiew, auf die Flucht begeben. Ihr Mann und ihr Sohn sind in der Ukraine geblieben, um ihr Land zu verteidigen. Da man ihr sagte, dass es kaum Platz für Gepäck gibt, hat sie nur einen Rucksack mitgenommen. Sie war 16 Stunden in einem überfüllten Zug nach Lemberg unterwegs. Es folgte eine 18-stündige Busfahrt an die polnische Grenze, wo sie in einem Einkaufszentrum übernachten konnte. Schliesslich flog sie von Warschau nach Zürich, wo sie ihre Tochter erwartete, die schon zehn Jahre in der Schweiz lebt. Es fällt ihr schwer, sich über die gelungene Flucht zu freuen. «Ich muss immer an meinen Sohn und meinen Mann denken», sagt sie - und fügt hinzu: «Am liebsten würde ich wieder heimgehen.» Die Frage, ob man in ihrer Familie Ostern feiert, beantwortet sie leicht irritiert mit: «Ja, klar.» Auch sie hat jedes Jahr süsses Osterbrot gebacken. «Wahrscheinlich mit Wurst und Eiern im Körbchen?», fragt Oksana Häfliger, die das Gespräch übersetzt. Valentina Velychko nickt und erstmals ist ein befreiendes Lachen möglich. Dieses Jahr möchte sie auf jeden Fall mit der Familie ihrer Tochter Ostern feiern. Wenn es möglich ist, würde sie auch gern eine Woche später nach Zürich fahren, um dort die Osternacht der orthodoxen Gemeinde mitzuerleben.

Sarah Stutte und Detlef Kissner, forumKirche, 13.04.2022
 


Religion in der Ukraine
Etwa 75 Prozent der Bevölkerung gehört orthodoxen Kirchen an. Es gibt die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats und die Orthodoxe Kirche der Ukraine, die der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel 2018 gegen den Protest der ersten Kirche anerkannte. Etwa 12 Prozent der Bevölkerung ist Mitglied der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, die den Papst anerkennt. Diese ist vor allem im Westen der Ukraine verbreitet. Aufgrund unterschiedlicher Kalender findet Ostern in den orthodoxen Kirchen oft später statt als in der katholischen Kirche. Dieses Jahr liegen die beiden Osterfeste eine Woche auseinander. 
 

Gruppenfoto der Frauen
Quelle: zVg
Ein Gruppenfoto der Frauen mit ihren Kindern im Seeburgpark Kreuzlingen. Schwester Maria Neustannoi Pomoci ist links im Bild zu sehen, ihre Mitschwester Maria Mukachivska mittig und mit Kind auf dem Arm.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gruppenfoto
Quelle: Detlef Kissner
Sie halten zusammen (v.l.): Frau aus der Ukraine, Mann von Juliya Federova, Dagmar Cadonau, Juliya Federova, Oksana Häfliger, Valentina Velychko.

Kommentare

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Ruepp Marcel

14.04.2022, 11:00

Das ist eine gute Nachricht. Gott möge uns allen beistehen.

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