Eine Pilgerreise zum inneren Ich

Unsere langjährige Schlussrubrik-Schreiberin und Mutter von sechs Kindern, Daniela Wick-Buob aus Sitterdorf, hat sich im letzten Sommer auf den Jakobsweg gemacht. Warum sie von der eigenen Haustüre aus losgelaufen ist und was das tägliche «Unterwegs-sein» mit ihr gemacht hat, berichtet sie im Interview.

Wie lange warst du auf dem Jakobsweg und auf welcher Route?

Ich habe mir von Anfang Juli bis Ende September eine Auszeit genommen. Ich bin von meiner Haustüre aus gestartet, auf dem Schwabenweg an der Thur entlang nach Sirnach und dann quer durch die Schweiz. In Frankreich bin ich dann auf der Via Gebennensis nach Le Puy gelaufen. Mir war wichtig, dass ich von Zuhause aus aufbreche. Vor sechs Jahren hatte ich einen Traum, in dem ich mich mit dem Rucksack auf dem Rücken von Anfang an gehend auf den Weg machte. Das war seitdem immer mein Wunsch. Ich wollte mich nicht erst in ein Auto oder in einen Zug setzen. Vom ersten Moment an den Rhythmus der Schritte zu spüren, die Familie im Blick, das Haus im Rücken – das hat viel mit mir gemacht.

Was genau?

Erst war ich sehr traurig, weil es mir schwerfiel, alles und alle hinter mir zu lassen. Das kam unerwartet, weil ich mich so auf diese Reise gefreut hatte. Auch am ersten Abend habe ich noch ein wenig mit mir gehadert, weil ich da schon die Füsse voller Blasen hatte und das kannte ich nicht. Ich habe mich gefragt, was mir das sagen will – ich bin keinen Tag ohne Schmerzen gelaufen. Irgendwann kam mir der Gedanke, dass ich dadurch in etwas Neues hineingeboren werde. Dann bin ich langsam in meinen Schritt gekommen, habe die Natur und die Stille um mich herum wahrgenommen und wurde ruhiger. Ich war mir plötzlich sicher, dass meine Familie die Zeit ohne mich gut übersteht und habe mir dadurch nochmals die Erlaubnis gegeben, diesen Weg gehen zu dürfen.

Wie organisiert man eine Auszeit in einer Grossfamilie?

Ich habe mein Vorhaben schon ein Jahr zuvor angesprochen. Meine grösseren Kinder waren sehr dafür und haben sofort zugesagt, mich zu unterstützen. Sie haben den Haushalt übernommen, mein Mann das Kochen und alle zusammen haben für die Betreuung meines jüngsten Sohnes gesorgt. Ich war nicht aus der Welt und wäre im Notfall auch sofort zurückgekommen. Seltsamerweise habe ich mich unterwegs viel verbundener mit meinem Zuhause gefühlt, obwohl ich dort körperlich nicht anwesend war. Doch ich habe trotzdem stets gemerkt, wenn es jemandem aus meiner Familie oder meinem Freundeskreis nicht gut ging. In Gedanken und im Gebet war ich dann bei ihnen. Es war schön für mich, zu erfahren, dass sich die Verbindung nicht in der Präsenz des Körpers zeigt, sondern im Herzen, der Seele und dem Geist.

Wolltest du ein bestimmtes Streckenziel erreichen?

Nein, ich wollte einfach in den drei Monaten so weit wie möglich kommen und mir die Zeit nehmen, auch an Orten bleiben zu können, die mir gefallen. Ich habe nur die Route des ersten Tages geplant, danach bin ich einfach nach Gefühl gelaufen. Morgens bin ich ziemlich früh los und mittags habe ich geschaut, wie fit ich noch bin und welche Herbergen es in der Umgebung gibt. Dort habe ich angerufen oder bin auf gut Glück vorbei. Die Leute sind sehr offen und bereit, dir weiterzuhelfen. Wenn alles voll ist, improvisieren sie etwas für dich. Ich habe immer darauf vertraut, dass ich noch einen Platz zum Schlafen finde.

Wie weit bist du gekommen?

Ich bin bis Saint-Genis-Laval gekommen, südöstlich von Lyon. Ich konnte nicht mehr weiterlaufen, aufgrund einer Knochenhautentzündung, die sich übers ganze Schienbein zog. Als ich an diesem regnerischen Morgen aufgebrochen bin, tat mir das Bein schon weh. Im Verlaufe des Tages wurden die Schmerzen dann stärker. Ich fand eine private Herberge, die sehr weit draussen lag und bin, mit sehr vielen Pausen und auf meine Stöcke gestützt, dorthin gelaufen. Nachdem ich beim örtlichen Arzt war, konnte ich noch länger in der Unterkunft bleiben. Ein deutsches Ehepaar, das ebenfalls dort übernachtete, nahm mich nach einigen Tagen mit dem Auto mit in Richtung Schweiz und von dort bin ich mit dem Zug zurück.

Warst du enttäuscht?

Ja, anfangs schon. Ich bin in einer sehr leistungsorientierten Familie aufgewachsen. Ich hatte das Gefühl, dass dieser unfreiwillige Abbruch bedeutet, dass ich meinen Weg nicht zu Ende gegangen bin. Ich habe ihn dann aber auf meine Art beendet. Da ich noch sieben Wochen Zeit hatte und nicht einfach nur zu Hause herumliegen wollte, entschied ich mich, eine Sprachschule im französischen Tours zu besuchen. Auch das war eine Erkenntnis für mich: Nicht etwas auf Biegen und Brechen durchzuziehen, sondern auch den Mut haben, Nein zu sagen. Selbst wenn etwas nicht so läuft wie vorgesehen, ist es trotzdem richtig. Der kurze Weg von der Gastfamilie zur Schule führte mich jeden Morgen ebenfalls über den Jakobsweg. Der Wunsch, andere Sprachen zu lernen, ist unterwegs entstanden. Weil ich so viele Menschen aus aller Welt getroffen habe.

Welche Begegnung ist dir besonders in Erinnerung geblieben?

Ich habe in Rapperswil einen Pilger getroffen, der schon sehr viel gepilgert ist. Er hatte eine ganz schwierige Ausstrahlung, mürrisch und schwer. Wir sind eine Weile miteinander gelaufen, er war mir aber viel zu negativ, weshalb ich nicht mehr mit ihm weiterlaufen wollte. Anderthalb Tage später haben wir uns wiedergetroffen, weil wir am gleichen Ort übernachtet haben. Dort war er dann plötzlich ganz anders, viel aufgestellter. Ich hatte das Gefühl, dass er seinen Ballast in den letzten Tagen ablegen konnte. Wir hatten daraufhin tolle Gespräche. Überhaupt erreicht man auf dem Jakobsweg in der Begegnung mit Menschen sehr schnell eine gewisse Tiefe. Man redet selten über das Wetter oder Nichtigkeiten, das war spannend.

Warum wolltest du überhaupt den Jakobsweg machen?

Ich hatte schon länger das Gefühl, dass ich mich im Leben immer ein wenig hinten angestellt habe. Ich brauchte Zeit nur für mich, etwas, das ich als junger Mensch auch nie eingefordert hatte. Ich wollte für mich reflektieren, was gewesen ist und wo ich noch hinmöchte, ob ich etwas verändern muss. Mein Bild vom Laufen war dabei nicht spezifisch auf den Jakobsweg ausgerichtet. Ursprünglich wollte ich in den Norden, aber das hätte viel mehr Organisation benötigt und ich habe gemerkt, dass mir dafür die Energie fehlt. Ich hatte mit der Theologin Hildegard Aepli Kontakt, die schon nach Jerusalem und Rom gepilgert war. Sie meinte, gegen den Strom zu schwimmen, könne auch einen Energieentzug bewirken. Also bin ich Richtung Süden aufgebrochen.

Mit wieviel Gepäck warst du unterwegs?

Mit 8 Kilo Grundgepäck und Wasser. In gewissen Gebieten hatte ich noch Proviant dabei. Für mich war das Gewicht ideal, ich habe den Rucksack nie richtig gespürt. Am Tag bin ich zwischen 6,5 und 10 Stunden gelaufen. Meistens alleine, doch einmal habe ich auf dem Weg jemanden getroffen von dessen Ehrgeiz ich mich habe anstecken lassen. Das wurde mir dann aber zuviel. Für mich war das die grösste Herausforderung unterwegs: mich abzugrenzen und mich nicht von anderen stressen zu lassen. Darauf würde ich mich ein nächstes Mal mental besser vorbereiten.

Was für konkrete Veränderungen hat das Pilgern für dich gebracht?

Von Hildegard Aepli habe ich auch den Pilgersegen bekommen, zusammen mit einem Satz aus der Bibel: «Geh deinen Weg vor mir und sei ganz». Das war für mich der prägende Satz auf dem Jakobsweg. Gott ist hinter mir und stützt mich, wo ich auch bin. Ich darf vor ihm laufen und einfach ich sein. Ich habe gemerkt, dass mir viele Dinge in der heutigen Zeit zu schnell und zu viel sind. Ich bin niemand, der die Geschwindigkeit liebt. Dafür möchte ich gerne Dinge tun, die mir wirklich Freude bereiten und mir Kraft geben. Ich fühlte mich unterwegs so kraftvoll, weil mir die Natur so viel gegeben hat. Das wollte ich mit in den Alltag nehmen. Deshalb habe ich mich gefragt, was meine Leidenschaften sind und was ich einfach nur so nebenbei mache. Ich bin gerade in der Aufräumphase, es verändert sich viel im Moment. Der Jakobsweg geht für mich weiter, er hört nicht auf.

Würdest du nochmals loslaufen?

Ja, unbedingt. Ich würde das nächste Mal Richtung Norden laufen und gegen den Strom schwimmen.

Interview: Sarah Stutte (3.1.20)


Schluss mit der Schlussrubrik: Mit ihrem Text über den Jakobsweg in der Ausgabe 23/2019 verabschiedet sich Daniela Wick-Buob als Schreiberin von forumKirche


 

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Daniela Wick-Buob (erste von links) auf ihrer Reise.

 
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Zur Stärkung auf der Strecke: Kaffee und Kuchen für die Pilgerinnen und Pilger

 
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Der Weg war das Ziel für die Sitterdorferin.


Bilder: zVg

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