Kanton Thurgau lanciert Volksinitiative

Die Förderung und Erhaltung der Biodiversität und des Artenreichtums im Thurgau – das will eine kantonale Volksinitiative erreichen. Am 3. Mai startet die Unterschriftensammlung zur breit abgestützten Kampagne, für die sich neben Naturschutzverbänden und Parteien erstmalig auch die Kommission Kirche und Umwelt der katholischen Landeskirche Thurgau politisch engagiert.

«Die Lage ist nicht nur im Thurgau dramatisch, sondern global. Der drastische Rückgang von Insekten, Fischen und Pflanzen in nur einer Generation, ist mehr als besorgniserregend. Wir verlieren die natürliche Vielfalt, und wenn wir so weitermachen, verlieren wir unsere gesamte natürliche Welt», erklärt Gaby Zimmermann, Präsidentin der Kommission Kirche und Umwelt. An der Medienorientierung im Pfarreizentrum Klösterli in Frauenfeld, an der die kantonale Volksinitiative Biodiversität vorgestellt wird, bekräftigt sie das kirchliche Engagement dafür: «Vielleicht wird nicht jeder gutheissen, dass eine kirchliche Organisation nun plötzlich politisch aktiv wird. Vom christlichen Standpunkt aus haben Tiere und Pflanzen jedoch einen Eigenwert als Geschöpfe. Der Papst sagt klar in seiner Enzyklika, dass wir kein Recht haben, sie zugrunde zu richten.» Gaby Zimmermann findet deshalb, dass möglichst viele Kirchgemeinden ihrer Vorbildfunktion nachkommen und ihre öffentlichen, kirchlichen Flächen, sofern vorhanden, mehr nutzen sollten, um diese Vielfalt weiterhin zu gewährleisten.

Natürlichkeit nimmt ab

Genau dies setzt die Kirchgemeinde FrauenfeldPlus heute schon um. Sie hat einen Teil ihrer kirchlichen Grünflächen als Biodiversitätsflächen belassen und nutzt die Hälfte ihrer Aussenfriedhöfe als Blumenwiesen. «Wir haben uns dem Gedanken der Nachhaltigkeit verpflichtet», bekräftigt Markus Beerli, zuständig für den technischen Unterhalt der Kirchgemeinde. Doch solchen natürlich belassenen Beispielen wie in Frauenfeld begegnet man heute in der Schweiz nur noch selten. Die Zersiedelung nimmt zu – das unbebaute Land ab. Immer mehr Flächen werden kultiviert und deren Böden und Pflanzen mit Insektiziden behandelt, welche die Ausbreitung invasiver gebietsfremder Arten verhindern sollen. Und auch in den privaten Gärten trifft man häufiger auf zurechtgestutztes Grün oder Steinwüsten.

Verlorener Lebensraum

Darunter leidet die biologische Vielfalt, denn für ungezählte einheimische Tier- und Pflanzenarten geht dadurch Lebensraum für immer verloren. Heute sind fast 36 % aller untersuchten Tier- und knapp 47 % der Pflanzenarten bedroht. Gravierend ist etwa der Rückgang bestimmter Vogelarten, da diese «sehr schnell auf Veränderungen des Ökosystems reagieren», wie Beat Leuch, Co-Präsident von Birdlife Thurgau, erklärt. Und neben blütenbestäubenden Insekten wie Wildbienen, Fliegen und Schmetterlingen sind selbst die Fische stark gefährdet. «Von 55 einheimischen Fischen können sich heute nur noch 25 Arten natürlich ernähren», erläutert Christoph Maurer, Präsident des Fischereiverbands Thurgau. Zudem sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Moorflächen um 82 % zurückgegangen und die Trockenwiesen und Weiden um 95 %.

Gefährdete Ökosystemleistungen

Zwar gelten die veranschlagten Zahlen für die ganze Schweiz, doch da der Thurgau zu den Mittelkantonen mit intensiver Landwirtschaft, grossem Siedlungsdruck und engmaschiger Verkehrserschliessung gehört, ist davon auszugehen, dass der ökologische Verlust im Thurgau ebenfalls sehr gross ist. Verschiedene Massnahmen wie die Vernetzungskorridore des Landschaftsentwicklungskonzepts Thurgau oder Artenförderungsmassnahmen haben bis 2017 zwar eine leichte Verbesserung der Situation bewirkt. Doch um eine wirkliche Trendwende einzuleiten, sind wesentlich grössere Anstrengungen vonnöten. So sehen es auch die neun Thurgauer Politik-, Kirchen- und Umweltschutzorganisationen (Birdlife, Fischereiverband, CVP, EVP, GLP, Grüne, Kommission Kirche und Umwelt, Pro Natura und WWF), die gemeinsam hinter der kantonalen Volksinitiative Biodiversität stehen. «Es geht um sehr viel, nämlich um die Beibehaltung unserer Ökosystemleistungen wie die Sauerstoffproduktion und die Bodenfruchtbarkeit. Aber auch um die Sicherstellung des Standortfaktors Thurgau, um unsere Identität und die Erholung», erklärt Pro Natura Thurgau-Präsident Toni Kappeler.

Erforderliche Gesetzesänderung

Die Initianten wollen erreichen, dass die Termini Biodiversität und Artenvielfalt ins kantonale Natur- und Heimatschutzgesetz aufgenommen werden. In diesem wurden die beiden Begriffe bisher nicht berücksichtigt, weil einerseits die rückläufige ökologische Entwicklung zu schnell vonstatten ging und die Auswirkungen dieses Rückgangs bisher kaum richtig wahrgenommen wurden. Mit der gesetzlichen Verankerung will man die biologische Vielfalt im Thurgau gezielt und wirkungsvoll fördern. Dazu soll eine kantonale Biodiversitätsstrategie entwickelt werden, ähnlich derjenigen, die der Nachbarkanton St. Gallen bereits erarbeitet hat. Zusätzlich sollen jährlich drei bis fünf Millionen Franken entweder für die nächsten zwölf Jahre oder als Gesamtsumme in der Höhe von 48 Millionen Franken für Förderprojekte und die dazu notwendigen personellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Denn momentan umfasse die Fachstelle Naturschutz Thurgau nur gerade 7 Mitarbeiter – im Vergleich zum Kanton Zürich mit 24 Mitarbeitern eindeutig zu wenig, betont Toni Kappeler.

Gesicherte Finanzierung

Um das kantonale Anliegen noch breiter abzustützen, starten fünf nationale Umweltverbände gleichzeitig eine eidgenössische Initiative zu Biodiversität und Landschaft. Zudem stellt der Bund, laut seinem im September 2017 genehmigten Aktionsplan für 26 Massnahmen zusätzliche Gelder zur Verfügung, sofern sich der Kanton in ähnlichem Umfang an der Finanzierung einer solchen Massnahme beteiligt. Bedeutet, jeden Franken, den der Thurgau in eine Massnahme zur Förderung der Biodiversität investiert, verdoppelt der Bund. «Wir können und müssen uns das leisten. Das Nettovermögen des Kantons beträgt aktuell 428 Millionen Franken. Dazu addiert sich der kantonale Gewinnanteil der Schweizerischen Nationalbank aus dem Geschäftsjahr 2017 in Höhe von 42,8 Millionen Franken», rechnet Toni Kappeler vor.

Mehr Waldreservate und Gründächer

Mögliche Projekte, die im Thurgau gemäss der Initiative umgesetzt werden könnten, gibt es viele. Darunter beispielsweise Schritte, um eine verbesserte Wasserqualität des Bommer Weihers zu erreichen oder eine Reduktion des Nährstoffeintrags aus dem umliegenden Landwirtschaftsland im Hudelmoos. Ferner sollen die Thurgauer Waldreservate von 10 % auf 15 % erhöht werden, unter besonderer Berücksichtigung der Eichen- und Auenwälder. Auch der Schutz durch eine Vergrösserung der spezifischen Lebensräume von national prioritärer Arten wie dem Eisvogel oder der Äsche sowie dem weltweit einzigartigen Bodensee-Vergissmeinnicht soll gefordert werden. Weitere Überlegungen widmen sich dem vermehrten Bau von Kleintierdurchlässen bei gefährlichen Strassenübergängen oder aber der Natur im Siedlungsraum in Form von privaten Gärten und öffentlichen Plätzen. «Aktuell wird der urbane Raum ökologisch noch zu wenig genutzt. Vor allem Dachflächen könnten noch grüner sein und private Rasen weniger steril gehalten werden. Mit der Initiative können wir hoffentlich auch viele städtische Hobbygärtner für das Thema sensibilisieren», bekräftigt CVP-Kantonsrat und Synodenpräsident Dominik Diezi.

Für Gaby Zimmermann steht fest, dass die Initiative ein Schritt in die richtige Richtung ist, aber noch viele folgen müssen. «Solange es teurer ist, schonend zu produzieren, solange wird die Situation schwierig sein. Die politischen Massnahmen in Sachen Umweltverträglichkeit müssen viel weiter greifen. Sämtliche Versuche zur Förderung des natürlichen Wachstums sind deshalb zu begrüssen».

Sarah Stutte (29.4.19)


Weitere Infos: www.biodiversitaet-thurgau.ch


Was heisst Biodiversität?

Unter Biodiversität versteht man einerseits die Artenvielfalt, wie sie beispielsweise eine Blumenwiese mit zahlreichen unterschiedlichen Pflanzen, Gräsern, Insekten, Kleinsäugern oder Vögeln aufweist. Darunter fällt aber genauso die Lebensraumvielfalt, die durch eine Landschaft mit Laubmischwäldern, Obstgärten, Wiesen, Weihern und Bachläufen gewährleistet ist. Dabei ermöglicht eine hohe Lebensraumvielfalt eine hohe Artenvielfalt. Die dritte Form von Biodiversität unterscheidet sich genetisch innerhalb einer bestimmten Art. Dies durch Populationen an unterschiedlichen Orten oder durch verschiedene Sorten von Nutztieren und Nutzpflanzen wie Hühnerrassen oder Apfelbaumsorten. Hier garantiert eine hohe genetische Vielfalt das Überleben der Art bei Umweltveränderungen und neuen Krankheiten.


 

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Im Bild: 12 von insgesamt 14 Komitee-Mitgliedern und neun beteiligten Organisationen (v. l. n. r.):
Guido Leutenegger/Gemeinderat Kreuzlingen, Toni Kappeler/Pro Natura Thurgau, Dominik Diezi/CVP Thurgau, Christoph Maurer/Fischereiverband Thurgau, Gaby Zimmermann/Kommission Kirche und Umwelt der katholischen Landeskirche Thurgau, Beat Leuch/Birdlife Thurgau, Kurt Egger/Grüne Thurgau, Wolfgang Ackerknecht/EVP Thurgau, Stefan Leuthold/GLP Thurgau, Gabriele Gondek Aebli/WWF Thurgau und Peter Schweizer, Co-Präsident Bio Ostschweiz.

Bild: Sarah Stutte

 
 
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Für das Hudelmoos wünschen sich die Initianten eine Reduktion des Nährstoffeintrags aus der umliegenden Landwirtschaft.

Bild: pixabay.com

 
 
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Auch der gefährdete Eisvogel soll künftig im Thurgau besser geschützt werden. Dazu will man die natürliche Dynamik des Fliessgewässers fördern.

Bild: pixabay.com

 
 
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Die Gartenanlage Klösterli in Frauenfeld bietet natürlichen Lebensraum für Bienen und Schmetterlinge.

Bild: Sarah Stutte

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