Ein Fachmann führt in die Welt der Glocken ein

Ob auf Weihnachtskarten, am Christbaum oder zum Jahresausklang: Glocken sind zurzeit omnipräsent. Wer mehr über das täglich genutzte Kulturgut erfahren möchte, stösst unweigerlich auf Hans Jürg Gnehm aus Affeltrangen.

Er kennt sie alle, jede einzelne der 688 Glocken in den 163 Türmen im Kanton Thurgau. Hans Jürg Gnehm, Glockensachverständiger und ehemaliger Experte des Bundes, hat zwischen 1992 und 1999 sämtliche Thurgauer Glocken inventarisiert. So erhielt jede Glocke einen ausführlichen «Steckbrief» mit Angaben zu ihrer musikalischen und geschichtlichen Beschaffenheit. Es wurden unter anderem Umfang und Höhe gemessen, das Gewicht geschätzt wie auch die Klangfarbe der Glocke mit Stimmgabeln bestimmt. Einige Beispiele dieser umfangreichen Arbeit sind im Buch «Schätze des Glaubens – Kostbarkeiten aus dem Besitz der thurgauischen Kirchgemeinden» zu finden. Darin erfährt man, dass die Glocke ursprünglich aus Asien und China stammt und durch die Völkerwanderung verbreitet wurde. Irische Wandermönche brachten die Glocke nach Mitteleuropa. Die Zeiten des Geläuts orientierten sich an den Horen, den klösterlichen Gebetszeiten der Mönche. Noch heute erinnern das Sechs- oder Elf-Uhr-Geläut an das Betzeitläuten.

Erster Schweizer Glockenexperte

Der 66-jährige Hans Jürg Gnehm war als Bub oft in Hüttlingen und fasziniert, wie in den Sechzigerjahren die Glocken von Hand geläutet wurden. «Kirchenbauten und kunsthistorische Gegenstände haben mich immer schon begeistert», sagt Gnehm, dessen Grossvater als Sigrist tätig war. «Glockengeläut ist etwas Entrücktes, das man nicht sieht, aber immer präsent ist und einen andachtsvoll trägt», sagt Gnehm. Der gelernte Bahnbeamte und spätere Sozialarbeiter und Diakon bildete sich in Deutschland zum ersten Schweizer Glockenexperten für Landeskirchen und Denkmalpflege aus. Mit der Inventarisation der Thurgauer Glocken wurde der kulturelle Wert erkannt und festgehalten. Da jedes Detail der Glocke aufgeführt ist, weiss man bei einem Schaden, was gemacht werden muss. Auch die Entwicklung und die Veränderungen in den Inschriften und beim Klang der Glocke sind im Inventar auszumachen. Da einer Glocke der Hauch von Ewigkeit anhaftet, werden nur selten neue Glocken gegossen. «Ein Glockenaufzug ist etwas sehr spezielles, da die Glocken für ein paar Jahrhunderte im Turm verschwinden», sagt Gnehm. Apropos Turm: Dieser hat auch eine grosse Auswirkung auf den Klang der Glocke: Je weniger man von den Glocken sieht, desto besser tönt es.

Frieden bringende Inschriften

Besonders zu Weihnachten und zum Jahreswechsel ist das Vollgeläut nicht wegzudenken. Oft bezieht sich das Geläut auf ein Lied wie etwa «Salve Regina» oder «Wachet auf ruft uns die Stimme». «Zu dieser Zeit ist man offener für Glocken», weiss Gnehm, «da die Menschen in einer emotionalen Stimmung sind und Frieden finden möchten.» Glocken wurden etwa als Friedensverkünder eingesetzt und bei vielen Inschriften taucht das Wort Frieden auf. Und obwohl die Glockeninschriften in evangelischen und katholischen Kirchen recht unterschiedlich sind, gibt es eine, die rund 50 Mal als häufigste gemeinsame Inschrift vorkommt und direkt mit der Weihnachtsgeschichte zu tun hat: Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Claudia Koch (3.12.19) 

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Hans Jürg Gnehm hat alle Glocken in Thurgauer  Kirchtürmen inventarisiert, hier im Kirchturm in Hüttlingen.

Bild: Claudia Koch

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