Ein Besuch im Erzählcafé

Erzählcafés sind moderierte Erzählrunden an einem öffentlichen Ort, bei denen fremde Menschen zu einem bestimmten Thema ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen teilen. Dies kostenlos, unverbindlich und offen für alle. Jeder kann, niemand muss eine Geschichte beitragen. Auch wer einfach nur zuhören mag, ist willkommen. So wie im Erzählcafé Frauenfeld, das seit 2017 als integrierter Bestandteil des Tageszentrums Tapetenwechsel in eben diesem stattfindet.

Trotz strahlendem Wetter ist das gemütliche «Wohnzimmer» des Tageszentrums am Schwalbenweg 1 an diesem Nachmittag mit bis zu zwanzig Teilnehmenden gut besucht. Auf den Sofas haben es sich schon einige, vorwiegend ältere, doch auch ein paar jüngere am Erzählen wie auch am Zuhören Interessierte bequem gemacht. Rasch werden noch Stühle herangezogen und alle rutschen enger zusammen. Kurz darauf lauschen alle gespannt den Worten von Silvia Schönenberger, die mit einem Märchen von Hans Christian Andersen das heutige Erzählcafé zum Thema «Mein Lieblingsmärchen» eröffnet.

«Ja, mit diesen Geschichten bin ich auch aufgewachsen», erinnert sich eine ältere Dame dänischer Herkunft. Ihr liebstes Märchen sei das von der kleinen Meerjungfrau gewesen, die sich selbst finden müsse. Eine andere Erzählcafé-Teilnehmerin gibt zu, dass sie als kleines Mädchen Märchen ganz schrecklich gefunden habe. «Die Stiefmütter waren immer böse, und hundert Jahre schlafen wie Dornröschen – das mag man sich als Kind nicht vorstellen, das sind Ewigkeiten», erklärt sie. Viel lieber hätte sie stattdessen selbst schönere Geschichten erfunden, für die eigenen Kinder später sowieso. Man müsse aber aufpassen bei Kindern, gibt jemand anderes zu bedenken, weil sie sich alles merkten und man kein erfundenes Märchen aus dem Stegreif zweimal genau gleich erzählen könne. Alle lachen.

Individuelle Erinnerungen

Zwischendurch bringen Moderatorin Elisabeth Anderes und die Frauen des Teams Tapetenwechsel wieder Ideen ein, um das Gespräch anzuregen. Manchmal sei dies jedoch gar nicht notwendig, je nachdem, unter welchem Motto das jeweilige Erzählcafé stattfinde, erklärt Barbara Sterkman, Leiterin des Tageszentrums. Neben den Märchen sprach man in diesem Jahr schon sehr lebendig über Rituale oder Erinnerungen an die Kriegsjahre. «Gerade Themen, für die man Erinnerungsarbeit leisten muss, fördern Spannendes zutage», so Barbara Sterkman. Wichtig sei dabei, dass niemand in der Gruppe, die sich jedes Mal in Anzahl und Personen unterschiedlich zusammensetze, korrigiert werde, weil Erinnerungen immer individuell seien.

Erzählcafés gibt es inzwischen in der ganzen Schweiz, für unterschiedliche Zielgruppen und auch unter kirchlicher Leitung. Als Gemeinschaftsprojekt der Fachhochschule Nordwestschweiz und Migros-Kulturprozent entstehen die Kulturräume seit 2015 über das Netzwerk Erzählcafé. Dieses bietet für Moderatorinnen und Moderatoren regelmässig Weiterbildungen und Werkstattgespräche zur Methodik eines Erzählcafés an.

Elisabeth Anderes, die nun seit anderthalb Jahren durch die monatliche Veranstaltung im Tageszentrum Tapetenwechsel führt, schätzt diese Unterstützung. «Das gemeinsame Austauschen in einer unverbindlichen Runde von bis zu 25 Personen tut gerade in einer Zeit gut, in der sich niemand mehr welche nimmt», erklärt sie ihre Erzählcafé-Motivation. Und fügt hinzu: «Mich faszinieren die Biografien der Menschen. Wenn sie diese nicht teilen können, geht dieses Wissen verloren.»

Sarah Stutte (6.8.2019)


Erzählcafé: Jeweils am zweitletzten Donnerstag im Monat, 14.30 bis 16.30 Uhr.



Tapetenwechsel

Seit 2017 bietet das Tageszentrum Tapetenwechsel täglich von Montag bis Freitag (7.30 Uhr bis 17.30 Uhr) für ältere und kranke Menschen mit leichtem oder mittelschwerem Pflegebedarf eine professionelle Tagesbetreuung. Das im Thurgau einzigartige Angebot wurde von Barbara Sterkman initiiert. Dies, um einerseits die betreuenden Angehörigen, die im Tageszentrum auch umfassend beraten werden, zu entlasten und andererseits in Zeiten der zunehmenden gesellschaftlichen Vereinsamung einen Ort zu schaffen, an dem verschiedene Menschen den Tag zusammen verbringen können. Elf Teilzeitangestellte und drei freiwillige Mitarbeiterinnen umfasst derzeit das Team. Jeden Tag sind Fachpersonen aus Pflege und Kunsttherapie/Aktivierung vor Ort. «Die Aktivierung durch gemeinsames Kochen und Singen, Turnen, Ausflüge, aber auch durch künstlerische Tätigkeiten wie Malen oder Basteln, ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Das Herzstück des Tageszentrums ist deshalb unser Atelier», erklärt Barbara Sterkman. Das Tageszentrum ist ein kostengünstiges Angebot für Bewohner aus dem ganzen Kanton Thurgau, welches von den Gemeinden mitfinanziert wird. (www.tapetenwechsel-frauenfeld.ch)


 

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Das Tapetenwechsel-Team (v. l. n. r.):
Obere Reihe: Elisabeth Anderes, Silvia Schönenberger und Inger Wegelin.
Untere Reihe: Franziska Scheidegger, Svenia Stolz und Barbara Sterkman.


Bild: Sarah Stutte

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