Über die Notwendigkeit, Werte auszuhandeln

Die katholische Kirche ist eine Religionsgemeinschaft, die zwei Jahrtausende überdauert hat. Wie ist ihr das gelungen? Was gehört zu ihrem unverwechselbaren Kern und wie muss sie sich ändern, um bestehen zu können? Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Luzern, gibt Einblicke in diese Fragestellungen. Das Interview führt in die neue Serie «Reformen in der Kirche» (siehe Anhang) ein.

Die katholische Kirche ist eine sehr alte religiöse Gemeinschaft. Was hat dazu geführt, dass sie so lange Bestand hat?

Die Kirche als endzeitlich ausgerichtete Glaubens- und Handlungsgemeinschaft in der Nachfolge Jesu. Teile dieser Kirche hatten immer wieder die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche Kontexte einzulassen. Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zum Beispiel stellte in gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht einen enormen Strukturwandel dar. Teile der Kirche verstanden es, sich davon berühren zu lassen, diesen Wandel selber zu gestalten und zu beeinflussen. Das verlief in den einzelnen Epochen ganz unterschiedlich. Dabei kam die Kirche nicht immer gut weg. Der Aufbau der Kolonialherrschaften wäre wahrscheinlich unter anderen Vorzeichen als den christlichen anders verlaufen. Insgesamt ist das lange Bestehen nicht allein mit historischen Faktoren zu begründen – es bleibt ein unerklärbarer Rest. Religionswissenschaftlich betrachtet ist die Kirche ein Phänomen der Spätantike. Die Frage, wie sie sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Kultur den Untergang dieser Epoche überleben konnte, ist schwer zu beantworten.

Wieviel Stabilität braucht ein solches soziales Gebilde wie die Kirche und wieviel Anpassungsfähigkeit?

Ihrem Selbstverständnis nach ist die Kirche prophetisch, sie hat ihre Berufung von Christus und soll nicht angepasst sein. Es geht eher darum, dass sie sich auf den jeweiligen sozialen Kontext einlässt. Dies ist in einem hohen Mass gefragt. Stabilität hingegen ist ideell gefordert, in Rückbindung an die Berufung, Salz der Erde zu sein, und dies in Vorwegnahme der endzeitlichen Sendung präsent zu machen. Dieser Verpflichtung muss die Kirche treu bleiben. In Bezug auf den Rest hat sie sich dialogisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen; anders geht es nicht.

Das betrifft aber viele Bereiche…

Ja. Und diese Auseinandersetzung soll immer mit dem Anspruch geschehen, für die Gesellschaft etwas zu bewirken – nicht etwa: andere zu belehren oder zu beherrschen.

Papst Benedikt XVI. unterschied im Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil die «Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches» von der «Hermeneutik der Reform» (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 172). Ist diese Unterscheidung gerechtfertigt?

Der Papst wollte hervorheben, dass jene Neuerungen legitim sind, die aus dem Bestehenden herausgewachsen sind und sich als organische Weiterentwicklungen darstellen lassen. Alles Revolutionäre hingegen wäre illegitim. Damit hat er allerdings sehr stark zugunsten seiner eigenen Ideale hinsichtlich Liturgie und Kirchenordnung gesprochen; denn für sie fand er auf diese Weise eine solide Begründung.

In einer weiteren Sicht wird deutlich, dass auch organische Entwicklungen Brüche aufweisen. Gerade im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist das offensichtlich, was etwa im neu gewonnenen Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen sichtbar wird. Wenn man die Positionen von 1930 und 1980 miteinander vergleicht, ist das wie schwarz und weiss. Deshalb sollte man meines Erachtens nicht einfach gering schätzen, was auf den ersten Blick aussieht wie ein revolutionärer Bruch.

Welche Entwicklungen würden Ihrer Ansicht nach zu einem unverantwortbaren Bruch führen?

Unverantwortlich wäre ein Verrat an der eigenen Sendung und der eigenen Berufung. Die Prüfung muss sich auf den Sinn einer Sache richten, nicht auf die vordergründige Ausgestaltung. Ein Beispiel: Um einen einfachen Lebensstil zu praktizieren, verwendete man im Mittelalter in einigen Benediktinerklöstern Zinngeschirr – Porzellan war ein Luxusgut. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Situation verändert; inzwischen gibt es Porzellan als billige Massenware. Der gleiche Zinnteller, der einst Zeichen der Bescheidenheit war, ist dadurch zum Attribut von Fünfsternhotels geworden. Wer ihn immer noch verwendet, handelt damit der Bedeutung nach ganz anders als im Mittel alter, obwohl sie oder er noch das gleiche Material benutzt. So kann es sein, dass ein- und dieselbe Handlungsweise sich durch Änderung der Umweltbedingungen im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil verkehrt.

Was begünstigt eine Reform in der Kirche?

Authentische Reform kommt in unserer heutigen Sicht zustande, wenn sie das Ergebnis eines fortdauernden Aushandlungsprozesses ist. Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas spricht vom «kommunikativen Handeln». Die Verwirklichung dessen, wofür die Kirche von Christus berufen ist, muss immer wieder am Kontext gemessen werden. Es kann sein, dass der gleiche Zinnteller eine andere Bedeutung hat. Um dem Ursprung treu zu sein, müssen wir uns der Veränderung stellen und auf die Debatte einlassen. So kann es geschehen, dass wir am Ende das Material wechseln müssen.

Papst Benedikt stimme ich zu, wenn er vor einer billigen Anpassung und plumpem Pragmatismus warnt. Eine prophetische Heilsgemeinschaft und eine aalglatte Mainstream-Gesellschaft sind ganz verschiedene Dinge. So sind wir heute dankbar, dass es im 20. Jahrhundert in Deutschland eine «Bekennende Kirche» gab, welche sich gegen die regimekonformen «Deutschen Christen» stellte.

An welchem Punkt steht die katholische Kirche aus Ihrer Sicht heute? Gibt es einen Reformstau? Was steht an?

Die Kirche macht schwere Krisen durch, ohne jede Frage. Das Verdunsten der kirchlichen Praxis, die abnehmende Beteiligung der Gläubigen, der Mangel an Berufungen für den kirchlichen Dienst, die Verständigungsschwierigkeiten in der Gesellschaft und vor allem auch die Auseinandersetzung mit den Missbrauchs-Verbrechen verlangen entschiedene Reform-Anstrengungen. In den zugehörigen Aushandlungsprozessen müssen wir die Taktrate um einige Stufen erhöhen. Es gab Zeiten, in denen die Kirche der Welt voraus war; die Gesellschaft konnte an ihr Mass nehmen und versuchen, die kirchlichen Errungenschaften nachzuvollziehen. Ein Beispiel war die kirchliche Strafprozessordnung, welche wesentlich früher als alles andere in der Welt nach objektiven Regeln organisiert wurde. Ähnliches gilt für Management- und Controllingprozesse, welche die Kirche schon im 16. Jahrhundert entwickelte – lange bevor es moderne Wirtschaftsunternehmungen und durchgestylte öffentliche Verwaltungen gab.

Auf dieses Ideal können wir uns ausrichten, es hätte auch eine Wirkung nach aussen. «Schaut doch, wie die Christgläubigen miteinander umgehen und wie sie zusammenhalten», sollen in Nordafrika die ungetauften Leute einst zueinander gesagt haben. So jedenfalls berichtete es der christliche Schriftsteller Tertullian im dritten Jahrhundert. Ein Muster für die Zukunft!

Interview: Detlef Kissner (25.6.19)


Neue Serie

Die katholische Kirche wird als «riesiger Tanker» wahrgenommen, der sich kaum oder gar nicht bewegt. Blickt man aber auf ihre lange Geschichte zurück, stellt man fest, dass sie immer wieder auf neue Herausforderungen reagiert und sich schrittweise gewandelt hat. In der Serie «Reformen der Kirche» stellt forumKirche in den nächsten fünf Ausgaben solche Wandlungen, ihre Beweggründe und Gegenkräfte vor. Prof. Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Luzern, steht dabei als kompetenter Gesprächspartner zur Verfügung.


Teaser-Bild: Hans Braxmeier/Pixabay

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Wie sollen Entwicklungen in der Kirche aussehen? Dürfen es nur «Triebe» aus dem «Stamm der Tradition» sein? Oder kann es auch zu Brüchen kommen?

Bild: pixabay.com

 
 
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Eine Gedenktafel in Berlin-Kreuzberg erinnert an die Mitglieder der «Bekennenden Kirche», die sich «gegen die Vereinnahmung der Kirche durch den totalitären Staat» wehrten.

Bild: OTFW/Wikimedia Commons

 
 
 
 
 
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Prof. Dr. Markus Ries lehrt Kirchengeschichte an der Universität Luzern.

Bild: zVg

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