Eine Idee findet Anklang

Seit dem 10. Dezember 2023 steht in der Kirche St. Stefan in Kreuzlingen-Emmishofen eine Klagemauer. In der Osternacht werden alle Klagen, Bitten und Wünsche dem Feuer übergeben.

«Bischof Felix Gmür war der Auslöser dafür, dass ich eine Klagemauer aufgestellt habe», erzählt Nedjeljka Spangenberg. Sie ist Seelsorgerin in Kreuzlingen und Ermatingen. Der Bischof hatte in einem Impulsschreiben dazu aufgerufen, beispielsweise einen Boxsack zur Verfügung zu stellen, damit die Kirchenmitglieder ihren persönlichen oder allgemeinen Frust loswerden können. Spangenberg hatte aber eine andere Idee: Sie baute in der Kirche St. Stefan in Kreuzlingen-Emmishofen eine Klagemauer auf – mit verschieden geformten Backsteinen, die sie auf einem Tisch mit einem grau-beigen Leinentischtuch zu einer Mauer aufgestapelt hat. Um den Effekt noch zu verstärken, hat sie rechts und links davon in je einer Vase Trockenblumen eingestellt und die Mauer mit Trockenblumen geschmückt. 

Platz für Sorgen und Nöte
«Für Jüdinnen und Juden stellt die Klagemauer in Jerusalem ein Symbol für den ewig bestehenden Bund Gottes mit den Menschen dar», erläutert Nedjeljka Spangenberg. «Es sind die Überreste des Tempels, der vor etwa 2'000 Jahren zerstört worden ist.» Und sie erinnert daran, dass täglich ganz viele Menschen die Klagemauer besuchen, um dort zu beten. Diese Menschen stecken Klagen, Gebete, Wünsche und Danksagungen, die sie zu Papier gebracht haben, in die Ritzen und Spalten der Mauern. Der Ukraine-Krieg, der Krieg im Nahen Osten, die schwierige Situation in der katholischen Kirche: All dies beschäftigt die Menschen zurzeit in der Schweiz. Dazu kommen persönliche Schwierigkeiten. Um diesen Sorgen, Nöten und Belastungen eine Plattform zu bieten, ist die Mauer in der Kirche St. Stefan gedacht. Nedjeljka Spangenberg hat dafür verschieden gestaltete farbige Zettel aufgelegt und ermuntert die Gottesdienstbesucher*innen zur stillen Einkehr an der Mauer. 

Tradition des Bittgebetes
Wie diese Klagen aussehen, spielt keine Rolle. Alles ist erlaubt: ein Wort, ganze Sätze, traurige, wütende, nachdenkliche, sehnsüchtige, aber auch dankbare Botschaften. Gott nimmt diese Worte schon wahr, wenn sie gedacht, gebetet oder geschrieben werden – so die Meinung von Nedjeljka Spangenberg. Sie verweist auf das Alte Testament: «Die Psalmen des Alten Testamentes sind die Gebetssammlungen der Bibel. Viele unter ihnen dienen als Beispiel, wie sich die Betenden immer wieder mit ihren Bitten an Gott wenden oder Gott gelegentlich selbst anklagen.» Sie erwähnt Psalm 22, wo David klagt: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?»
Mittlerweile sind die Löcher in der Mauer schon fast alle mit Klagen und Bitten gefüllt, sodass die Seelsorgerin die Mauer erweitern muss – auch wenn der Mesmer davor warnt, weil er befürchtet, der Tisch könnte unter seiner Last zusammenbrechen. Nie hätte Nedjeljka Spangenberg damit gerechnet, dass ihre spontane Idee einen so grossen Anklang findet. Bevorzugt werden die bunten Zettel. Die weissen liegen noch auf dem Tisch, auf dem ein schön illustriertes Psalmenbuch aufliegt und eine Erklärung der Seelsorgerin, weshalb sie diese Klagemauer errichtet hat. 

Verwandlung in Osternacht
Bis jetzt hat Nedjeljka Spangenberg praktisch nur positive Reaktionen auf ihre Aktion erfahren. Der Kirchenrat ist begeistert und hätte die Idee am liebsten in allen drei Kirchen des Pastoralraumes Regio Kreuzlingen gesehen. Aber Spangenberg ist sehr bemüht, abwechselnd in jeder Kirche etwas Spezielles zu bieten. «Diese Klagemauer gehört in die Kirche St. Stefan und sonst nirgends hin», sagt sie bestimmt. Von einer Frau darauf angesprochen, dass das grau-beige Tuch, das den Tisch verdeckt, leicht zerknittert ist und hätte gebügelt werden müssen, antwortet die Seelsorgerin schlagfertig: «Ich habe das bewusst so zerknittert gelassen, um den Effekt der rauen, unebenen Steine in der Mauer hervorzurufen.»
Auf die Frage, was denn mit den Zetteln passiere, erklärt Nedjeljka Spangenberg: «Am Karfreitag werde ich die Zettel in Boxen legen, damit sie nicht auseinanderfallen und die Botschaft sichtbar wird. Diese Boxen werden wir vor das Kreuz bringen und den Gekreuzigten darum bitten, unsere Klagen und Nöte mit ans Kreuz zu nehmen. In der Osternacht werden die Zettel im Osterfeuer verbrannt. Dadurch werden sie in Licht und Wärme verwandelt und können zu Gott aufsteigen.» Sie sieht es als Zeichen dafür, dass Gott uns ernst nimmt und uns zum Leben ermutigt. 

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 28.02.2024
 

Seelsorgerin Nedjeljka Spangenberg zeigt ihre Klagemauer.
Quelle: Béatrice Eigenmann
Seelsorgerin Nedjeljka Spangenberg zeigt ihre Klagemauer.

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