Über die Bedeutung, das eigene Leben zu reflektieren

Mit dem Jahreswechsel geht etwas zu Ende und etwas Neues beginnt. Manche nutzen diese Zeit des Übergangs dazu, ihr eigenes Leben zu hinterfragen. Die Seminare «Ganzheitliche Standortbestimmung» laden dazu ein, dies mit Begleitung und in einer Gruppe zu tun. forumKirche fragte bei Lukas Niederberger nach, der diese Seminare in verschiedenen Bildungseinrichtungen anbietet (siehe Kasten), was bei einer Standortbestimmung wichtig ist.

Warum ist es sinnvoll, sich eine längere Auszeit zu nehmen, um sich neu auszurichten?

Die Auszeit muss nicht einmal besonders lange sein. Oft genügt es schon, zwei bis drei Mal bewusst ein- und auszuatmen, um uns im Alltag neu auszurichten. Es geht auch nicht nur um einen zeitlichen Abstand zum Allerlei und Vielerlei des Alltags. Auch durch den räumlichen Abstand zu den eigenen vier Wänden erhalte ich einen klareren Blick auf mein Leben. Dass man sich im Leben immer mal wieder neu ausrichten muss, lernt man sehr praktisch beim Segeln, wo der Wind ständig ändert und man den Kurs ständig anpassen muss, um das gewünschte Ziel zu erreichen. In unserem Leben müssen wir je nach Lebenssituation unsere Segel auch wiederholt neu stellen, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen.

Wie kamen Sie darauf, Seminare dazu anzubieten?

Ich wirkte von 1995 bis 2008 in der Leitung vom Lassalle-Haus. In den meisten Kursen, ob Fasten oder Zen-Meditation, Yoga oder Kontemplation, geht es um die Frage, wo ich stehe, wie ich die Vergangenheit integriere und wie ich mich auf Neues und Unbekanntes ausrichten und dafür öffnen kann. Ich wollte diese Fragen in Kursen zur Standortbestimmung ganz explizit thematisieren und entwickelte dafür spezielle Übungen.

Wie hat man sich diese Übungen vorzustellen?

Da jede Person andere Vorlieben hat, den eigenen Standort zu bestimmen, biete ich mehrere Zugänge an: den Blick aufs ganze Leben und auf das vergangene Jahr, die Reflexion der verschiedenen Rollen und Hüte, die wir tragen, die Betrachtung unserer Baustellen sowie eine Analyse der eigenen Ganzheitlichkeit. In einem weiteren Schritt nähern sich die Kursteilnehmenden mit Impulsfragen ihren Zielen und Werten. Eine Übung, die viele erstaunt und positiv überrascht, besteht im Abholen von Feedbacks auf formulierte persönliche Ziele, die wir für mehr oder weniger realistisch halten.

Welche Lebenssituationen eignen sich besonders für eine Standortbestimmung?

Letztlich eignet sich jeder Morgen und jeder Abend dazu. Eine ausgeprägte Standortbestimmung erfolgt im optimalen Fall freiwillig, wenn wir vielleicht zwei Jahre vor der Pensionierung stehen und uns fragen, wie wir den nächsten Lebensabschnitt gestalten wollen. Nicht selten besuchen Leute meine Kurse, die ihre*n Partner*in oder die Arbeit verloren haben, vor oder nach einem Burnout stehen oder eine negative Krankheitsdiagnose erhalten haben. In einem Kurs hatte ich einmal eine 30-jährige Frau, die in den Zweiergesprächen bewusst Damen im Alter zwischen 70 und 90 wählte. In der Schlussrunde meinte sie: «Ich hätte nie gedacht, dass man im Alter noch so viele offene Fragen hat.»

Was muss man als Teilnehmer*in mitbringen?

Eine dreifache Offenheit: Offenheit für den Blick aufs eigene Leben, Offenheit für die unterschiedlichen Themen und Übungen sowie Offenheit für die anderen Personen in der Gruppe.

Am Anfang steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Was kann sich daraus ergeben?

Die Bandbreite von Gefühlen, die aufsteigen können, reicht von eitler Wonne bis zu tiefer Trauer und Wut. Niemand kann unsere Geschichte ändern, wohl aber unsere Einstellung zur eigenen Vergangenheit. Das, was ich selbst für mein Leben lernte, erfuhr ich eher in konfliktreichen Situationen als auf Sonntagsspaziergängen. Es ist klar, dass ein Wochenend-Kurs nicht genügt, um sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen. Aber man kann entdecken, wo es noch Knöpfe zu lösen gilt.

Was bedeutet es, sich auf «sinnvolle Ziele und Werte zu fokussieren»?

Die Bedeutung ist individuell sehr verschieden. Manche Leute können ihre Ziele und Werte zu Beginn des Kurses kaum benennen. Mit speziellen Fragen und Übungen kann man diesen jedoch näherkommen. Letztlich geht es darum, dass wir uns nicht passiv leben, steuern und treiben lassen, sondern unser Leben möglichst selbstbestimmt gestalten.

Welche Aspekte fliessen noch in Ihre Seminare ein?

Neben der Integration der Vergangenheit und der Öffnung für die Zukunft ist ein liebevoller und ein geduldiger Umgang mit der Übergangs-Phase wichtig. Leider bezeichnen viele Menschen die Zeit des Nicht-mehr-und-noch- nicht als Leere, Loch oder Krise. Das Bild der Brachzeit oder des Brachlands ist an dieser Stelle hilfreich. Wenn das Neue nicht bloss ein Mehr vom Gleichen sein soll, sondern echt Neues und Kreatives möglich sein soll, braucht es die Phase, in der alles ruhen darf und wo uns der nächste Schritt noch nicht klar sein muss.

Welchen Platz haben Gott, Religion und Glaube in diesem Kurs? Oder geht es letztlich um Selbstoptimierung?

In spirituellen und ganzheitlichen Kursen soll es selbstverständlich nicht darum gehen, noch mehr leisten zu können. Der Begriff Selbstoptimierung wird aber zu Unrecht schlechtgeredet. Wenn religiöse Menschen ethisch leben, um nach dem Tod in den Himmel zu gelangen, ist das ein völlig legitimer Versuch der Optimierung des ewigen, göttlichen Selbst. Und auch wenn Menschen ohne religiöses Musikgehör achtsam und sinnvoll zu leben versuchen, damit der Planet länger gesund bleibt und auch die nächsten Generationen saubere Luft einatmen können, ist nichts dagegen einzuwenden. Im Kurs ist es jeder und jedem freigestellt, ob sie oder er Gott und die Dimension der Ewigkeit in die persönliche Standortbestimmung integrieren will oder nicht. Je nach Fragestellung – was will Gott von meiner ewigen Seele bzw. welches ist meine Aufgabe in diesen 70 bis 100 irdischen Jahren? – ergeben sich tatsächlich diametral verschiedene Antworten.

Die von Ihnen angebotene Standortbestimmung soll «ganzheitlich» sein. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Einerseits wird nicht nur die physische, die psychische, emotionale, partnerschaftliche, berufliche oder spirituelle Ebene betrachtet, sondern möglichst alle miteinander. Und andererseits sprechen die verschiedenen Übungen nicht nur die linke Hirnhälfte an, sondern auch Herz und Seele. 

Welche Vorteile bringt es, einen solchen Zwischenhalt in einer Gruppe vorzunehmen?

Ich erlebe in jedem Kurs, dass Menschen, die sich zuvor überhaupt nicht kannten, sich im Austausch vertrauter wurden als Geschwister und Bekannte. Die Gespräche mit anderen Kursteilnehmenden, die völlig verschieden ticken oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben, tragen dazu bei, die eigene Perspektive zu öffnen und zu ändern.

Wie oft gönnen Sie sich selbst eine Auszeit, um sich neu auszurichten?

Erstens nehme ich mir Mini-Auszeiten im Alltag. Wenn ich an der Supermarktkasse oder an der Bushaltestelle warten muss, hole ich nicht reflexartig das iPhone aus der Tasche, sondern atme bewusst ein und aus. Zweitens gehe ich so oft wie möglich auf meinem Hausberg, der Rigi, wandern. Drittens gehe ich jedes Jahr mit Freunden eine Woche lang fastend wandern. Und viertens bin ich bei den Standortbestimmungskursen nicht nur Leiter oder Beobachter, sondern lasse mich jeweils auch auf die Fragen und Übungen ein.

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 28.12.20


Kurse zum Thema Neuausrichtung Lukas Niederberger bietet den Kurs «Ganzheitliche Standortbestimmung» zu folgenden Zeiten an (vorbehaltlich kurzfristiger Änderungen bzw. Verschiebungen aufgrund von Corona-Massnahmen):

• 15.–17.1.2021 im Lassalle-Haus www.lassalle-haus.ch (abgesagt)
• 23.–24.1.2021 im Hotel Rigi Klösterli www.kloesterli.ch
• 3.–5.9.2021 und 7.–9.1.2022 im Kloster Kappel: www.klosterkappel.ch

Weitere Infos: www.lukasniederberger.ch

Die von tecum in der Kartause Ittingen angebotene Retraite zum Jahresbeginn «Aus der Mitte leben» wurde aufgrund der Corona-Einschränkungen abgesagt.
 

Auch im Leben ist es notwendig, das Segel wieder nach dem Wind auszurichten.
Quelle: pixabay.com
Auch im Leben ist es notwendig, das Segel wieder nach dem Wind auszurichten.

 

 

 

 

Lukas Niederberger
Quelle: ZVg
Lukas Niederberger (57), studierte Philosophie und Theologie, leitet seit 2013 die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) und ist als Autor und Seminarleiter tätig.

 

 

 

 

Aus der Distanz betrachtet erkennt man Zusammenhänge und mögliche Wege besser.
Quelle: Detlef Kissner
Aus der Distanz betrachtet erkennt man Zusammenhänge und mögliche Wege besser.

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