Ein Rotkreuz-Fahrer im Einsatz für Demenzkranke

Der 73-jährige Marcello Hagmayer aus Neuwilen ist seit über fünf Jahren regionaler Einsatzleiter des Schweizerischen Roten Kreuzes in Kreuzlingen. Noch länger ist er jedoch als Fahrer für das Rote Kreuz und die Krebsliga im Thurgau unterwegs und befördert in seinem Privatauto auch demenzkranke Fahrgäste. Am 21. September, dem Welt-Alzheimertag, bekommt er für seine unermüdliche Arbeit den Anerkennungspreis FOKUS von Alzheimer Thurgau in der Kartause Ittingen verliehen.

Warum wollten Sie sich freiwillig engagieren?

Mein berufliches Leben war stets vielseitig, ich hatte immer etwas zu tun. Dann wurde ich pensioniert, hatte eine Hüftoperation und war plötzlich zu Hause, wo mir langweilig wurde. Ich kann nicht untätig rumsitzen und dabei zusehen, wie viel Salz meine Frau in die Suppe gibt.

Und wie sind Sie dann zum Rotkreuz-Fahrdienst Thurgau gekommen?

Vor acht Jahren habe ich mich über benevol als freiwilliger Helfer angemeldet. Kurz darauf kam die Anfrage, ob ich mich nicht im Fahrdienst für die Krebsliga einsetzen möchte. Ich fuhr dann zwei Einsätze pro Woche, fühlte mich jedoch damit noch nicht ausgelastet. Über die Krebsliga bin ich dann vor fünfeinhalb Jahren zum Rotkreuz-Fahrdienst gekommen. Direkt auch als Einsatzleiter, weil mein Vorgänger mit 80 Jahren vorschriftsmässig die Arbeit aufgeben musste.

Wie viel Arbeit fällt dabei an?

Mit beiden Engagements komme ich zusammen auf ein Pensum von 70 %. Davon nimmt die Administration einen wesentlichen Teil ein. Ohne meine Frau, die ebenfalls als Rotkreuz-Fahrerin tätig ist und oft sehr weite Strecken übernimmt, könnte ich den Bedarf gar nicht abdecken. Sie nimmt sich auch Zeit. Der Rotkreuz-Fahrdienst wartet in der Regel maximal eineinhalb Stunden, diese Wartezeit ist im Fahrpreis inbegriffen. Manchmal beträgt ein Aufenthalt im Unispital für einen Fahrgast aber drei bis vier Stunden. Meine Frau hält sich so lange in Zürich auf und kommt dann rechtzeitig zurück, um die Person abzuholen.

Wie gross ist das Team und wie hoch ist die Anzahl der täglichen Fahrten?

Das Team des Rotkreuz-Fahrtdienstes in Kreuzlingen umfasst acht Personen, die jeweils mit ihren Privatautos unterwegs sind. Wir haben zehn bis zwölf Aufträge pro Tag und fahren insgesamt 100‘000 Kilometer pro Jahr. Ich selbst fahre täglich für die Alterstagesklinik in Weinfelden, das alleine macht jährlich 400 Fahrten hin und zurück. Neben den medizinischen Fahrten zum Arzt, ins Spital oder in die Klinik, machen wir auch partizipative Fahrten. Das heisst, wir fahren die älteren Menschen auch einmal zum Friedhof oder zum Einkaufen, wenn sie dazu selbst nicht mehr in der Lage sind.

Sie befördern Demenzkranke. Was ist wichtig in der täglichen Arbeit mit Menschen, deren Erinnerung langsam verschwindet?

An einer Schulung von Alzheimer Schweiz sagte man uns, dass all unsere Erfahrungen wie in einem Archiv als Ordner angelegt sind und bei Demenzkranken gewisse Ordner fehlen, hauptsächlich die des Kurzzeitgedächtnisses. Die Menschen wissen nicht mehr, was sie zu Mittag gegessen haben. Aber sie wissen, dass sie vor dreissig Jahren mit dem Motorrad über den Sustenpass gefahren sind und sie wissen noch, welche Marke das Motorrad hatte. Wir versuchen deshalb, bei jedem Fahrgast herauszufinden, welche Ordner noch vorhanden sind, das ist ganz individuell. Dann regen wir das Gespräch auf diese Themen bezogen an, damit sich die Menschen ernstgenommen fühlen. Wir versuchen, sie nicht als Kranke zu behandeln.

Vielmehr sie in ihrer Erinnerung zu unterstützen?

Genau. Beispielsweise durch Musik als Türöffner. Ich lasse volkstümliche Lieder im Auto laufen und sie fangen an, mitzusingen, weil sie die Texte kennen. Musik hat eine ganz starke Bedeutung im Leben von Alzheimer-Patienten. Da wir unsere Fahrgäste in ihren Wohnungen abholen, helfen wir auch dort, wo wir können. Eine Frau hatte eine Zeit lang im Sommer immer kleine Fruchtfliegen in der Wohnung, weil sie vergass, die Konfitüre zuzumachen und zu versorgen. Jetzt gehen wir jeweils in die Küche und stellen das Glas in den Kühlschrank. Eine andere Dame war einmal nicht da, als ich klingelte. Sie war kurz zuvor in die Bäckerei gegangen und wusste nicht mehr, wie sie nach Hause kommt. Seitdem bringen wir ihr jedes Mal ein Brot mit, dafür wartet sie in ihrer Wohnung auf uns.

Was haben Sie mit diesen Menschen schon erlebt?

Eine Frau, die stark dement ist, ruft mich mehrmals die Woche an. Die Frau ist einsam und deshalb nehme ich mir Zeit für sie. Aus Spass habe ich ihr dabei schon gesagt, falls sie nochmal anrufe, müsse sie mir eine Pilgerreise nach Rom zahlen in einem Fünfsternehotel. Daran konnte sie sich erinnern. Ich staune immer wieder, was diesen Menschen bleibt, selbst bei schweren Demenzerkrankungen. Ich fahre beispielsweise eine andere Frau, die sehr oft über alles Mögliche schimpft. Ihr habe ich einmal gesagt, wenn sie jetzt nicht damit aufhöre, verlange ich fünf Franken mehr für die Fahrt. Bei der nächsten telefonischen Anfrage versicherte sie mir, sie hätte heute gute Laune. Ich versuche, allem mit Humor zu begegnen.

Worin liegt Ihre Motivation?

Die Aufgabe ist spannend und erfüllend. Die Menschen, die mit uns fahren, sind zufrieden, und das ist schön. Mir selbst ging es gut im Leben und das ist meine Art, etwas zurückzugeben. Ich danke also dem Leben, indem ich anderen etwas Gutes tun kann.

Was bedeutet Ihnen der Anerkennungspreis?

Wahnsinnig viel. Wir sind 500 Fahrerinnen und Fahrer im Thurgau und jeder hätte den Preis verdient. Das gerade ich ausgesucht wurde, ist für mich aussergewöhnlich und eine schöne Wertschätzung. Da ich vier Tage nach der Verleihung Geburtstag habe, ist der Preis zudem ein vorgezogenes Geschenk für mich. Gerade weil ich aber diese Arbeit nicht alleine mache, möchte ich das Preisgeld gerne sinnvoll einsetzen.

Was wünschen Sie sich noch im Zusammenhang mit Ihrer Tätigkeit?

Ich wünsche mir mehr Unterstützung von den Gemeinden und Behörden. Es wird auch immer schwieriger, freiwillige Fahrerinnen und Fahrer zu finden. Viele haben falsche Vorstellungen von der Tätigkeit. Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage wird in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. Das zwingt die Verantwortlichen dazu, nach neuen Lösungen zu suchen. Persönlich wünsche ich mir, einen Sponsor zu finden. Das würde uns ermöglichen, ein rollstuhlfähiges Fahrzeug zu kaufen.

Interview: Sarah Stutte (17.9.19)


Schweizerische Alzheimervereinigung – Alzheimer Schweiz

Der gemeinnützige Verein besteht seit 1988 und setzt sich für eine Gemeinschaft ein, in der die Menschen gleichwertig und gleich geschätzt miteinander leben. Die unabhängige Organisation ergreift Partei für Menschen, die an einer Demenzerkrankung leiden und vereinigt in der Schweiz 21 kantonale Sektionen unter ihrem Dach. Der Anerkennungspreis FOKUS wird seit 2006 verliehen. Die Schweizerische Alzheimervereinigung will damit beispielhaftes Wirken zum Wohle von einem oder mehreren Menschen mit Demenz und/oder deren Angehörigen bekannt machen und anerkennen. Gleichzeitig beleuchtet diese Aktion auch den einen oder anderen Aspekt aus dem täglichen Leben mit einer Demenz.


Alterstagesklinik Weinfelden

Die Alterstagesklinik mit offenem Atelier ist vor dreieinhalb Jahren von Münsterlingen nach Weinfelden gezogen. Sie bietet älteren Menschen mit psychischen Erkrankungen Therapien an. Beispielsweise bei leicht- bis mittelgradigen Demenzerkrankungen, Depressionen oder Angsterkrankungen. Bei diesem Angebot soll eine möglichst selbstständige Lebensführung gefördert und die Lebensqualität der Betroffenen verbessert werden. Angehörige können dabei beraten und durch die Therapieteilnahme entlastet werden. Durch den Umzug und die Erweiterung der Tagesklinik sind pro Woche bis zu 110 Menschen in Therapie. Marcello Hagmayer fährt nicht nur diese von Montag bis Freitag von A nach B, sondern ist für Patienten, Angehörige und das Behandlungsteam auch eine wichtige Ansprechperson. 


 

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Marcello Hagmayer unterwegs in seinem Rotkreuz-Auto.

Bild: zVg

Fokus-Preisverleihung am Welt-Alzheimer-Tag (21. September) in der Kartause Ittingen

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