Zur Arbeit statt unter den Tannenbaum

Den Heiligabend verbringen die meisten im Kreise ihrer Liebsten. Doch es gibt auch Menschen, die über die Weihnachtsfeiertage arbeiten – freiwillig oder unfreiwillig. Wir haben drei von ihnen gefragt – einen langjährigen Rotkreuzfahrer, eine Pflegefachfrau auf der Geburtenstation und einen Wirt – wie sie Weihnachten in ihrem Job erleben und welche Geschichten Sie uns über diese besondere Zeit erzählen können.

Marcello Hagmayer

«Die Geschichte, die mich am meisten berührt hat, liegt ungefähr zwei bis drei Jahre zurück. Ich sollte an Weihnachten eine 19-jährige hochschwangere Eritreerin ins Ausschaffungszentrum nach Bern bringen. Sie hatte unheimlich edle Gesichtszüge, wirkte auf mich aber wie eine Kerze ohne Licht, weil sie so traumatisiert war. Alles, was sie dabei hatte, war eine Schuhschachtel mit einer Schnur darum. Unterwegs bekam ich einen Anruf und es hiess, in Bern sei das Büro geschlossen, ich müsse zwei Stunden warten. Also haben wir an einer Raststätte gehalten, weil sie Hunger hatte. Da ich für mich nur etwas zum Trinken bestellte, hat sie ihre Pizza geteilt und mir ein Stück abgegeben. Das hat mich in diesem Moment tief bewegt und tut es noch heute. Dieses Mädchen, das nichts hatte, teilte mit mir ihr Essen, als ob das selbstverständlich wäre. In einem anderen Jahr um die Weihnachtszeit bin ich in meiner Freizeit beim Schnetztor in Konstanz vorbeispaziert. Dort sass Holger, ein älterer Mann mit schneeweissem Bart, der dort gebettelt hat. Ich bin mit ihm ins Gespräch gekommen und er erzählte, dass er auf der ganzen Welt auf Montage gewesen sei. Doch die Firma für die er arbeitete, ging Konkurs und er fiel durch alle sozialen Netze. Mich hat es erstaunt, dass er überhaupt nicht verbittert war und nicht mit dem Leben gehadert hat. Ich wollte ihm eine Freude machen, bin zurück nach Hause gefahren und habe meine Handorgel geholt. Dann setzte ich mich neben ihn. Auf einem Schild vor mir stand: Ich spiele für Holger. Nach zwei Stunden Handorgelspiel kamen 45 Euro zusammen und Holger strahlte wie ein Maikäfer. Aus dieser Perspektive ist die Welt eine ganz andere. Einige Menschen ignorieren dich und laufen an dir vorbei, während beispielsweise viele Kinder stehengeblieben sind und ihre letzten Münzen in den Beutel warfen. Ich werde auch dieses Jahr wieder an Heiligabend unterwegs sein. Ich fahre eine Frau, die ich schon mehrere Jahre, zwei bis dreimal im Jahr zu einer entfernten Cousine bringe. Sie hat keine nahen Verwandten und ist eigentlich sehr einsam.» (sas)

Daniela Guhl-Wolfer

Auch Daniela Guhl-Wolfer erlebt Weihnachten oft ausserhalb ihres Zuhauses. Die Pflegefachfrau arbeitet in der Wochenbettabteilung des Spitals Wetzikon und hat – wie viele andere in der Pflege – entweder über Weihnachten oder Silvester Dienst. Die Feier am Heiligen Abend mit ihrem Mann und den beiden fünf und acht Jahre alten Töchtern, Verwandtenbesuche, Treffen mit Freunden usw. müssen dann verschoben werden. «Als ich noch keine Kinder hatte, habe ich immer an Weihnachten gearbeitet», erzählt Daniela Guhl-Wolfer. Ihre Eltern und Brüder hätten da sehr flexibel reagiert und das Fest mit ihr vor- oder nachgefeiert. Jetzt - mit eigener Familie - versuche sie schon auch, am Heiligen Abend daheim zu sein. An Weihnachten arbeiten zu müssen, ist für sie aber nicht schlimm. «Ich mache das sehr gern. Auf der Station ist es dann etwas ruhiger, die Menschen sind entspannter. Bei uns gibt es allerdings keine Weihnachtsgeschichte oder -lieder. Wir tragen auch keine roten Mützen», sagt sie lachend. Früher sei die Station noch festlich dekoriert gewesen. Das sei leider aufgrund von strengeren Hygiene– und Brandschutzbestimmungen abgeschafft worden, bedauert die Pflegefachfrau. Auch die Tradition, dass der Frühdienst am Weihnachtsmorgen für das Team ein besonderes Frühstück auf weissem Tischtuch hergerichtet habe, gebe es nicht mehr: «Wir sind froh, wenn es noch zu einem Kaffee reicht.» Für die werdenden Mamis und Papis steht das Weihnachtsfest auch nicht im Vordergrund. «Sie sind mit der Geburt beschäftigt, erleben alles wie in einer Blase», sagt Daniela Guhl-Wolfer. Wenn man sie darauf aufmerksam machen würden, dass ihnen ja ein kleines «Christkindli» geschenkt worden sei, würden sie erst die besonderen Umstände realisieren.

Früher hätten die an Weihnachten geborenen Kinder noch Wollsöckchen und ein Mützchen geschenkt bekommen, welche pensionierte Frauen für sie gestrickt hätten. Bis heute ist der Gebärsaal des Spitals mit goldenen, herunterhängenden Sternen geschmückt, auf denen die Namen aller Kinder stehen, die im Dezember zur Welt kamen. Und wo wird Daniela Guhl-Wolfer dieses Jahr an Weihnachten sein? Eigentlich war sie am 24. und 25. Dezember zum Spätdienst eingeteilt, doch sie hatte Glück: «Eine Kollegin hat Erbarmen mit mir gehabt und meinen Dienst am Heiligen Abend übernommen.» Ob sie wirklich mit der Familie feiern kann, wird sich zeigen, da die Situation auf ihrer Station durch die Pandemie weiterhin angespannt bleibt. Es könnte unerwartet eine Kollegin ausfallen. Jede infizierte Patientin bedeutet zudem einen höheren Pflegeaufwand. (dk)

Reto Hauri

«Ich stehe seit dreissig Jahren immer am 24. Dezember hinter dem Tresen. Erst im Fun-Point in Romanshorn, heute im Hannes in Hefenhofen. Nachdem ich mit meiner Familie an Heiligabend den Christbaum geschmückt habe und es Bescherung gegeben hat, mache ich um 20 Uhr abends die Beiz auf.

Ich muss mich an Weihnachten dazu nicht überwinden. Es ist spannend für mich zu sehen, wer an diesem Abend kommt und wer nicht. Meistens sind im Hannes so zwischen 50 bis 90 Gäste. Im Fun-Point, wo ich früher Pächter war, hatten wir teilweise bis zu 350 Gäste. Ein sehr gemischtes Publikum, von Jung bis Alt, Paare und Familien. Meine Frau packte jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit unzählige kleine Geschenke ein wie Geduldsspiele, Rubellose oder Überraschungseier. Die verteilten wir dann. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als wir das zum ersten Mal machten. Da standen die Anzugträger zusammen mit den Lederjacken und haben untereinander ihre Geduldsspiele ausgetauscht. Dabei sind Menschen ins Gespräch gekommen, die vielleicht sonst niemals miteinander geredet hätten. Das war fast schon feierlich. Sowieso habe ich das Gefühl, dass an Weihnachten im Gasthaus immer alle höflich zueinander sind, völlig unabhängig davon, ob sie an etwas glauben oder nicht. Jedes Weihnachten ist anders. Einmal eine Riesenparty, das andere Mal eher gemütlich und besinnlich. Als ich das letzte Mal Weihnachten im Fun-Point ausrichten durfte – und noch nicht wusste, dass es das letzte Mal sein würde – arbeiteten alle sechs Mitarbeiter hinter der Bar und zapften Bier. Das Lokal war voll. Am Schluss des Abends ging jemand aus dem Team in die Küche, um den Umsatz zu zählen. Dabei habe ich beobachtet, dass ein Mitarbeiter nach dem anderen plötzlich in der Küche verschwand und dort wenig später Jubelgeschrei ausbrach. Ich fragte, was los sei und sie erklärten mir, dass wir mit dem heutigen Umsatz die Schallmauer durchbrechen konnten – dank aller Mitarbeiter, die den Restbetrag von 38 Franken dazu spendeten. Es gibt auch noch ein persönliches besonderes Weihnachtserlebnis. Ich habe vier Jahre in der Karibik gelebt und dort haben wir einmal, bei gefühlten 32 Grad draussen, in der Küche Fondue gemacht. Damit die Stimmung danach aussieht, haben wir die Fenster mit Kunstschnee besprüht, die Klimaanlage hochgedreht, die Windjacken angezogen und dann stilecht im Caquelon gerührt». (sas)

Sarah Stutte und Detlef Kissner, forumKirche, 15.12.21

Marcello Hagmayer
Quelle: zVg
Marcello Hagmayer, langjähriger Rotkreuzfahrer, Neuwilen, 75 Jahre

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Daniela Guhl-Wolfer
Quelle: zVg
Daniela Guhl-Wolfer, Pflegefachfrau, Hinwil (ZH), 41 Jahre

 

 

 

 

 

 

 

 

Reto Hauri
Quelle: Sarah Stutte
Reto Hauri, Wirt, Romanshorn/Hefenhofen, 55 Jahre

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