Ein Gespräch über den Weg der Kirche nach Corona

Die Erkenntnisse aus der Corona-Krise tragen die Hoffnung in sich, dass nicht nur gesellschaftlich, sondern auch kirchlich ein Umdenken stattfindet und somit ein Neuanfang möglich wird. forumKirche sprach mit vier Kirchenvertretern darüber, ob die Kirche den Weckruf gehört hat und wie in ihrem persönlichen seelsorgerischen Alltag kleine Veränderungen integrierbar sind.

Können Sie folgenden Satz ergänzen: Eine glaubwürdige Kirche ist….

Strassmann: …ein Ort, an dem man offen und ehrlich kommuniziert und auf die Anliegen der Menschen eingeht. 
Honegger: …eine Einheit von Wort und Tat, in der man wirklich auf allen Ebenen gemeinschaftlich unterwegs ist.
Zefi: …eine Kirche, die aktiv auf die Menschen zugeht. 
Oechsle: Für mich setzt eine glaubwürdige Kirche die Beteiligung vieler Gläubiger voraus.  

Welche Erfahrungen aus der Corona-Krise halten Sie für besonders wichtig?

Zefi: Wie anpassungsfähig wir sind, wenn es darauf ankommt. Für mich hat die Krise bestätigt, dass es den Menschen nicht am Glauben mangelt. Sie sind einfach sehr in ihrem Alltag eingespannt. Durch die Zeit, die sie plötzlich zur Verfügung hatten, haben sie neue Wege für sich gefunden, ihren Glauben auszuleben.
Strassmann: Wir sind wieder sensibler geworden für Alltäglichkeiten, die wir sonst oft für selbstverständlich halten. Dafür sollten wir dankbar sein und beibehalten, dieses Alltägliche wieder ganz bewusst zu geniessen.
Zefi: Weniger ist mehr. Wir können tatsächlich mit weniger auskommen und sind damit glücklich. So habe ich die Jugendlichen erlebt, die mit diesen Einschränkungen sehr gut zurechtgekommen sind und einen Blick für das Wesentliche in ihrem Leben bekommen haben. 
Oechsle: Das denke ich auch. Das zur Ruhe kommen steht wieder im Mittelpunkt und damit auch die Chance, innere Einkehr zu halten. Die Solidarität war spürbar durch die verschiedenen Hilfsangebote, die sich während der Krisenzeit entwickelt haben. Auch von uns war Flexibilität gefordert, auf diese neuen Herausforderungen ganz anders zu reagieren. In Frauenfeld sind wir von unserem Tafelprojekt Tischlein-deck-dich dazu übergegangen, stattdessen Lebensmittelgutscheine herauszugeben. Des Weiteren haben wir Tagesimpulse initiiert, um mit unseren Gläubigen trotzdem in Verbindung bleiben zu können. 
Honegger: Wir haben bei uns versucht, viele Personen per Telefon zu erreichen. Das bot die Chance, einzelne Gläubige besser kennenzulernen und tiefere Gespräche zu führen. Wünschenswert wäre, diese Einzelseelsorge vermehrt in den Berufsalltag zu integrieren. Zudem habe ich – als bisheriger Digitalisierungsmuffel – während der Krisenzeit gelernt, mich mit diesen Medien anzufreunden. Das sehe ich als Herausforderung und Anknüpfungspunkt für die Zukunft, denn die Kirche muss ins Netz. Gerade, um Jugendliche zu erreichen, müssen wir uns überlegen, auf welche Art und Weise wir dort präsent sein wollen und können. Mich hat die grosse Eigeninitiative in unserem Pastoralraum in spiritueller Hinsicht gefreut und überrascht. An den einzelnen Orten wurden die Kirchen wunderschön geschmückt, mit Blumen, bunten Steinen und Symbolen zu den Festtagen, und man hat Zeiten vereinbart, in denen man im Gebet verbunden ist.

Was bleibt von Corona-Aktionen wie der bereits genannten Telefonseelsorge oder beispielsweise der «Primeli»-Verteilung in Schaffhausen? Werden sie weitergeführt? 

Oechsle: Es gibt verschiedene Aktionen, deren Weiterführung durchaus Sinn macht. Unsere Tagesimpulse, die wir in einem achtköpfigen Team gestaltet und produziert haben, wollen wir beibehalten. Jedoch eher wochenweise, weil der Aufwand doch sehr gross ist. 
Zefi: Viele Aktionen werden wahrscheinlich nicht mehr fortgeführt, weil sie nur in dieser Phase für die Menschen wichtig waren. Andere Angebote in punkto Beziehungsarbeit und soziale Medien werden nun vielleicht stärker genutzt. Das muss von Fall zu Fall entschieden und situationsbedingt angepasst werden.  
Strassmann: Ich habe während des Lockdowns einen österreichischen Fernsehgottesdienst gesehen, der sehr interaktiv gestaltet wurde. So fand der Besinnungsakt im eingeblendeten Wohnzimmer eines Ehepaares statt und die Predigt in Form von Spots, in denen verschiedene Personen zu einem Thema Stellung beziehen konnten. Solche Ideen sollte man auch im kirchlichen Alltag umsetzen und unsere Gottesdienste auf viel mehr Personen abstützen, die man versucht zu integrieren. Partizipation ist für mich deshalb das Stichwort, die Gottesdienste persönlich gestalten und die Sicht der Gläubigen aufnehmen. 
Zefi: Ich hatte das Gefühl, dass die Kirchen anders wahrgenommen wurden. Als Raum der Stille, in den sich die Menschen einbringen konnten. Bei uns in Romanshorn konnten sie ins Fürbittenbuch schreiben, was sie bedrückt und wie es ihnen geht. Es brannte immer eine Kerze, alles erschien wärmer und einladender. Nach dieser positiven Erfahrung können wir uns fragen, wie wir die Kirche als Raum im Alltag gestalten. Ob sie tatsächlich einladend ist, nur weil die Türen offen stehen oder vielleicht doch eher kalt wirkt? Diesen Weg möchten wir weiterverfolgen und ausbauen.

Haben Sie diese kirchliche Öffnung noch auf anderen Ebenen gespürt?

Honegger: Sicherlich in den verschiedenen Begabungen, die plötzlich hervorgetreten sind. Beispielsweise im Arrangieren des Blumenschmucks für die Kirchen oder dass jemand sich im digitalen Bereich als guter Filmer herauskristallisierte. Die Erkenntnis, dass es Mitarbeiter und Freiwillige gibt, die sich auch im Normalbetrieb gestalterisch oder in der Produktion einer Videobotschaft einbringen können, ist wertvoll. Durch ihre Mithilfe tragen sie dazu bei, dass der Gottesdienst gewinnen kann. 
Oechsle: Ich denke, es sind einige neue Helferinnen und Helfer dazugestossen, die vielleicht bis anhin mit der Kirche nicht in Berührung gekommen sind. In meinen Augen ist es darum wichtig, sie nicht gleich ganz zu vereinnahmen. Wir müssen eine gewisse Sensibilität für den gesamten Freiwilligenbereich entwickeln. Das Engagement hat sich in den letzten Jahren verändert. Viele wollen gezielt spezifische Angebote unterstützen. Die ansonsten eher kirchenfernen Menschen zu beteiligen, ist deshalb gleichzeitig eine Chance, wie auch eine grosse Herausforderung. 
Strassmann: Das ist ein wichtiger Punkt, dass die Freiwilligenarbeit von möglichst vielen Beteiligten getragen wird. Man sollte nicht den zwanzig Personen, die sowieso schon sehr aktiv sind, nochmals eine Aufgabe aufbürden, sondern versuchen, den Kreis möglichst weit zu ziehen. In der Corona-Zeit sind gewisse Pfarreien sehr kreativ und aktiv geworden, andere weniger. Wie man seine Mitarbeitenden und Freiwilligen zur Mitgestaltung animiert und ihre kreativen Ideen miteinbezieht, spielt hier sicher auch eine Rolle.

Konnte man digital tatsächlich mehr Menschen erreichen oder dieselben, nur anders? 

Oechsle: Allein durch das Angebot entsteht kein stärkeres Interesse. Wenn man aber Menschen gezielt darauf anspricht, wie wir es beispielsweise bei älteren Personen mit Hinweisen auf unsere Tagesimpulse gemacht haben, sind Rückmeldungen gekommen. Ich denke, die persönliche Ansprache ist hier entscheidend. 
Honegger: Wir haben in Neuhausen-Hallau unseren Abenteuerland-Gottesdienst Online gestellt und dabei gemerkt, dass dieser nach drei Wochen immer noch Klicks generiert hat. Einige Personen haben den Link weitergeschickt und damit noch andere begeistern können. Dieses Konservierte hat durchaus etwas Ansteckendes. 
Zefi: Ich denke schon, dass wir damit ein anderes Zielpublikum erreicht haben. Mit unseren Wochenimpulsen konnten wir zwischen 100 bis 200 Klicks verzeichnen. Im Vergleich mit den Millionenklicks auf anderen sozialen Plattformen mutet das vielleicht recht wenig an. Doch eine Kirche muss man auch erstmal jeden Sonntag mit 100 bis 200 Menschen füllen. Das ist also ein enormer Fortschritt und ein Gewinn. 
Honegger: Ich bin Mitglied der ökumenischen Medienkommission in Schaffhausen und dort steht die Frage nach dem digitalen Weiterzug gerade im Raum. Im Moment möchte man als Kirche unbedingt präsent bleiben und die Form ausprobieren. Dabei wird sich herausstellen, was wie funktioniert und sich bewähren kann. 
Strassmann: Eine Mischung zwischen digitalen Inhalten und Präsenzunterricht kann ich mir auch für die KEB künftig vorstellen. Das bietet die Möglichkeit, sich an den eigentlichen Treffen tiefer in die Diskussion einzulassen. Eine Idee wäre auch, für spezielle Themen ergänzende Videoclips zu produzieren, was natürlich ein zusätzlicher Aufwand ist. Ich fände es aber gut, wenn wir im Internet mit gewissen Produktionen vorhanden sind, denn dort finden sich teilweise sehr dubiose Quellen, die ähnliche Inhalte unbefriedigend abhandeln. 
Zefi: Das Internet bietet uns darüber hinaus die Möglichkeit der Sichtbarmachung unserer kirchlichen Berufe. Wir können einfache Videos posten, die kurz erklären, was eigentlich eine Ministrantin, ein Jugendseelsorger oder eine Pfarreisekretärin genau macht. Damit kann man die Vielfältigkeit an konkreten Beispielen aufzeigen. 

Was könnte – nach dem Einschnitt – im gesellschaftlichen und kirchlichen Leben nochmals in veränderter Weise neu beginnen?

Zefi: Ich habe das Gefühl, dass dieses Bild von der Kirche, die aktiv auf die Menschen zugeht, tatsächlich jetzt auch umsetzbar ist. Wir haben nun erlebt, dass es möglich ist, die Leute aus der Ferne zu begleiten. Sie haben gespürt, dass Gott auch im Alltag präsent ist und nicht nur in unseren Räumlichkeiten und sind deshalb auch offener für Angebote geworden, die vielleicht vorher nicht möglich waren.
Strassmann: Die Corona-Krise fiel in eine Zeit, in der die Klimademonstrationen stattgefunden haben. Für diese Bewegung ist es vielleicht ein Schub, festzustellen, dass sich eigentlich schnell etwas verbessern könnte, wenn wir wirklich unser Verhalten ändern. Ich hoffe, dass diese ökologische Sensibilisierung weitergeht und auch von kirchlicher Seite mehr Unterstützung erfährt. 

Wie können Seelsorgende diesen Veränderungsprozess unterstützen?

Honegger: Was am meisten wirkt, ist das persönliche Beispiel. Was nehme ich aus den vergangenen Monaten mit und was mache ich mit diesen Erkenntnissen? Das ernst zu nehmen und sich im Alltag selbst zu disziplinieren, ist der grösste Schritt. Diese Einstellung kann dann in ein Team hineinwachsen und darüber nach aussen getragen werden. Daraus kann etwas entstehen. Die Corona-Krise war eine Zeit der grossen Unsicherheit, Planen war unmöglich. Auch momentan ist man noch in die Gegenwart geworfen. Gerade das kann aber eine spirituelle Chance sein. Im Jetzt sein, einen Schritt nach dem anderen nehmen und aushalten können, dass nicht alles planbar ist. 
Strassmann: Spiritualität ist eine Grundhaltung dem Leben gegenüber, der ureigenste Auftrag unseres christlichen Glaubens. Es geht um die Gestaltung des Lebens, aus welchen Haltungen heraus wir in unseren Alltag gehen, welche Werte wir transportieren und welche Tugenden uns helfen, hier zu bestehen. Um uns dessen immer wieder bewusst zu werden, hilft es, kleine Rituale in den eigenen Alltag einzubetten.

Eine realistische Einschätzung: Knüpfen wir als Kirche am bewährten Alten an oder gelingt ein Aufbruch?

Oechsle: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir mit einer Kirche leben, die eine 2000 Jahre alte Geschichte hat. Deshalb wird die katholische Kirche nach wie vor viel an Bewährtem weiterführen und die Veränderungen werden eher sehr klein und sehr langsam erscheinen. Wir brauchen deshalb viel Geduld und Beharrlichkeit, um diesen Prozess voranzutreiben. 
Strassmann: So wie bisher kann es sicher nicht mehr weitergehen, weshalb eine neue Verheutigung notwendig ist. Um mit den Menschen gemeinsam vorwärts zu gehen, müssen wir uns massiv verändern. Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil hätte man nicht für möglich gehalten, was damit aufgebrochen wurde. Wir brauchen momentan wieder so einen Rutsch, sonst landen wir in einer gesellschaftlich-sozialen Belanglosigkeit, die dem Auftrag Jesu nicht gerecht wird. Seine Botschaft erfordert auch von der Kirche Entscheidungen zur Erneuerung und ein Zulassen anderer Perspektiven.
Honegger: Ich glaube, allein die Corona-Zeit hat die Menschen schon verändert. Wenn man als Seelsorge-Team oder Ortsgemeinschaft eine solche Herausforderung mit der geforderten Flexibilität und Kreativität bewältigen kann, wächst das Selbstvertrauen und setzt eine gewisse Kraft frei.

Was für eine Kirche wünschen Sie sich? 

Strassmann: Eine, die mehr Anteil nimmt, die Menschen mitbeteiligt und auch mitentscheiden lässt.
Honegger: Eine lebendige Kirche von Jung bis Alt. 
Oechsle: Eine Kirche mit mehr Mut und der Bereitschaft zum konstruktiven Kampf um Demokratie. 
Zefi: Meine Vision ist eine Kirche, die neue Wege findet, die Jugendlichen mit ins Boot zu holen, die viel mehr und viel tiefer glauben, als wir uns das vorstellen. 

Interview: Sarah Stutte und Detlef Kissner (23.6.20)

Andrea Honegger
Quelle: Sarah Stutte/Detlef Kissner
Andrea Honegger: 50 Jahre, Studium der Theologie in Freiburg im Breisgau. Seit 2015 Pastoralassistentin/Pfarreiseelsorgerin im Pastoralraum Neuhausen-Hallau mit dem Schwerpunkt Familienpastoral.

 

 

 

 

Bruno Strassmann
Quelle: Sarah Stutte/Detlef Kissner
Bruno Strassmann: 64 Jahre, gelernter Bankkaufmann und Theologe, seit 2007 Leiter der Fachstelle Kirchliche Erwachsenenbildung der Kath. Landeskirche in Weinfelden (KEB).

 

 

 

 

Christoph Oechsle
Quelle: Sarah Stutte/Detlef Kissner
Christoph Oechsle: 59 Jahre, gelernter Modellschreiner und Sozialarbeiter/-pädagoge. Seit Januar 2018 Leiter Diakonie in der Pfarrei St. Anna in Frauenfeld.

 

 

 

 

Elfride Zefi
Quelle: Sarah Stutte/Detlef Kissner
Elfride Zefi: 32 Jahre, Sozial-und Religionspädagogin, seit Februar 2020 Jugendseelsorgerin in der kath. Kirche in Romanshorn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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