Über das Flüchtlingsdrama in Bosnien

Der Churer Fotograf Giosch Netzer (22) wollte sich selbst ein Bild über die Situation der Flüchtlinge machen, die in Bihać (Bosnien) gestrandet sind und dort unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben müssen. Zusammen mit seinem Mitbewohner Hendrik Richter (21) fuhr er Mitte Februar dorthin und sprach mit den Betroffenen, Helfer*innen und Einheimischen. Seine Eindrücke schilderte er in einem Telefonat mit forumKirche

Die westliche Welt ist mit der Eindämmung der Pandemie und sich selbst beschäftigt. Um die Flüchtlinge, die nach Europa drängen und an den Aussengrenzen gestoppt werden, ist es in der Politik und in den Medien ruhig geworden. Das sah auch Giosch Netzer so. Weil ihm das Schicksal dieser Menschen aber nicht egal war, beschloss er kurzerhand, sich selbst einen Eindruck zu verschaffen und das Erlebte mit Fotos zu dokumentieren. «Ich wollte vor allem Leute in meinem Alter darauf aufmerksam machen, was dort abgeht», umschreibt er seine Motivation. Nachdem er verschiedene Institutionen angeschrieben hatte, erhielt er eine positive Rückmeldung von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die im Auftrag der UNO weltweit Flüchtlinge betreut. Nach wenigen Tagen Vorbereitung machte er sich mit seinem WG-Mitbewohner Hendrik Richter, der spontan zugesagt hatte mitzukommen, auf den Weg nach Bosnien. «In Bihać wurden wir mit offen Armen von der IOM empfangen», so Netzer. Die Leiterin und ihre Mitarbeiter*innen machten die beiden mit der Situation vertraut und nahmen sie auf ihren Touren zu den Flüchtlingen mit. Während ihres sechstägigen Aufenthalts besuchten sie neben Bihać an der Grenze zu Kroatien auch zwei Lager in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo.

Campieren im Wald

Einige Autominuten weg von Bihać liegt das Flüchtlingslager Lipa. Direkt neben dem alten Lager, das am 23. Dezember 2020 geräumt und dann von Unbekannten angezündet wurde, wurde ein neues errichtet. Dort leben nun etwa 800 Flüchtlinge - ausschliesslich Männer – eingezäunt und bewacht von bosnischen Sicherheitskräften. Was Giosch Netzer dort erwartete, sprengte seine Vorstellung: «Die Lage ist sehr angespannt. Es geht den Menschen dort nicht gut. Bis zu 50 Personen sind in einem Zelt untergebracht. Als wir dort waren, lag viel Schnee. Sie erhalten zwei Mal pro Tag Essen und müssen mit ein paar wenigen mobilen Toiletten auskommen, die dementsprechend aussehen.»
Doch nicht alle Flüchtlinge haben im Lager einen Platz gefunden. Viele leben im umliegenden Waldgebiet in provisorischen Zelten oder Ruinen, beschädigten Gebäuden aus dem Bosnienkrieg (1992-95). «Manche haben sich auch bewusst entschieden, ausserhalb des Lagers zu leben, um Diebstahl und Gewalt zu entgehen», erzählt Giosch Netzer. Das IOM-Outfield-Team sucht diese Menschen, die zum Teil in Gruppen von 200 Personen zusammenleben, einmal pro Tag auf, um sie mit dem Notwendigsten zu versorgen. Bei dieser Gelegenheit können die Flüchtlinge auch Bedürfnisse z. B. nach Schuhen oder Kleidung anmelden, die ihnen dann am nächsten Tag gebracht werden. Die medizinische Versorgung beschränkt sich auf die Abgabe von Medikamenten.

Geprügelt und zurückgebracht

In dieser angespannten Situation versuchen manche der Gestrandeten die Flucht über die Grenze. Doch ihre Chancen sind gering, da die kroatische Grenzpolizei sehr präsent und mit Drohnen und Nachtsichtgeräten ausgestattet ist. «Flüchtlinge berichteten uns, dass die Grenzwächter ihnen alles weggenommen, sie geschlagen und illegal wieder nach Bosnien deportiert hätten», so Netzer. Da viele Gebiete vom Krieg her immer noch vermint seien, würden die IOM-Mitarbeiter*innen den Flüchtlingen Minenkarten zu Verfügung stellen. Doch manche von ihnen würden gerade den Weg durch die Gefahrenzonen wählen, in der Hoffnung, dadurch unbemerkt nach Kroatien zu kommen.
Ein Lichtblick waren für Giosch Netzer die herzlichen Begegnungen der Hilfskräfte mit den Flüchtlingen: «Sie umarmen sie, sprechen viele mit Namen an und fragen nach, wenn jemand fehlt.» Die Leiterin der IOM-Gruppe habe hervorgehoben, dass ihre wichtigste Dienstleistung nicht das Verteilen von Essen sei, sondern das Gespräch mit den Flüchtlingen, für Geschichten und Anliegen ein offenes Ohr zu haben. 
Den beiden Begleitern aus der Schweiz begegneten die Flüchtlinge in der Regel sehr offen. «Viele sind froh, dass durch Fotos und Berichte auf ihre schwierige Situation aufmerksam gemacht wird.»

Bessere Versorgung

In Sarajevo fanden Giosch Netzer und Hendrik Richter andere Bedingungen vor. Hier leben die Flüchtlinge in zwei grossen Lagern, von denen eines für Familien mit Kindern und eines für Jugendliche und junge Männer eingerichtet ist. «Im Vergleich zu Bihać geht es hier viel gesitteter zu, die Menschen sind besser versorgt. Sie können das Lager verlassen, versuchen, etwas Geld zu verdienen, und sich etwas kaufen. Abends kommen sie dann wieder zurück», erzählt Netzer. Im Lager für die jungen Männer war die Stimmung dennoch sehr aufgeheizt. Ein paar Tage zuvor hatte es einen Aufruhr gegeben, wovon noch Löcher im Aussenzaun zeugten. «Das Lager war sich selbst überlassen. Die Sicherheitskräfte hielten in einem Bus vor dem Lager die Stellung. Es war immer wieder einmal ein Schrei oder ein Knall zu hören», schildert der Fotograf seine Eindrücke.

Flüchtlinge unerwünscht

In Bihać könnte die Lage auch entspannter sein, könnten die Flüchtlinge auch menschenwürdig untergebracht werden. Denn noch vor einem Jahr hatten sie im Lager Bira gelebt, einer alten Fabrik am Stadtrand von Bihać. Wegen der Pandemie wurde Bira im September 2020 geschlossen und die Flüchtlinge provisorisch in das neu errichtete Lager Lipa verlegt. Die Bewohner*innen und die örtlichen Behörden weigerten sich dann, die Flüchtlinge wieder in das Lager Bira zu lassen. «Plakate am Lager Bira machen deutlich, dass die Flüchtlinge unerwünscht sind», berichtet Giosch Netzer. Man spüre die Abneigung der Bevölkerung, offen äussern wolle sich aber niemand in diese Richtung. Die Feindseligkeit richtet sich auch gegen Journalisten und Fotografen, weil diese die Realität nach aussen tragen und damit den moralischen Druck auf die Einheimischen erhöhen. «Die IOM hat uns gewarnt, dass wir uns eher vor der Bevölkerung als vor den Flüchtlingen in Acht nehmen sollen», sagt Netzer. Auf der anderen Seite zeigt er auch ein gewisses Verständnis für die Menschen in Bihać, die noch unter den Folgen des Krieges leiden und selber nicht viel besitzen. Gründe für das Flüchtlingsdebakel an der bosnischen Grenze sieht er in der Bestechlichkeit und der Unfähigkeit der lokalen Politik. 

Was nachklingt

Der Abschied aus Bihać fiel Giosch Netzer nicht leicht: «Ich hatte das Gefühl, dass ich wieder heim darf, ein gutes Leben führen kann, dass diese Menschen aber alle dableiben müssen, keine Perspektive haben.» Die Unveränderbarkeit dieser «humanitären Katastrophe» machte ihm zu schaffen. Er erinnert sich auch an einen jungen Afghanen, der ihm erzählte, dass er vor den Taliban geflohen sei, alles aufgegeben habe und unter grossen Strapazen hierher marschiert sei: «Das ist unfassbar, was die Menschen auf sich nehmen. Sie wollen nur in Sicherheit leben. Jeder sollte ein Recht darauf haben, aber dieses Recht wird ihnen verweigert.»
Auf der anderen Seite, wundert er sich heute, an welchen Kleinigkeiten man sich bei uns aufhalten kann, und empfindet eine grosse Dankbarkeit für die Möglichkeiten, die ihm hier geboten sind. Und er ist sich auf jeden Fall sicher: «Es war richtig, so ein Projekt durchzuführen. So etwas würde ich wieder machen.»

Detlef Kissner, forumKirche, 16.3.21
 

© Giosch Netzer
Quelle: Flüchtlinge, die versuchen, sich im Wald von Bihac´ irgendwie durchzuschlagen.
Flüchtlinge, die versuchen, sich im Wald von Bihać irgendwie durchzuschlagen.

 

 

Giosch Netzer (l) und Hendrik Richter reisten für sechs Tag nach Bosnien, um in Bild und Text über die Situation der Flüchtlinge dort zu berichten.
Quelle: © Giosch Netzer
Giosch Netzer (l) und Hendrik Richter reisten für sechs Tag nach Bosnien, um in Bild und Text über die Situation der Flüchtlinge dort zu berichten.

 

 

 

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