Eine Woche auf Wiboradas Spuren

Als achter von insgesamt zehn Teilnehmer*innen verbrachte Gabriel Krucker aus Bichwil (SG) eine Woche in der Wiborada-Zelle neben der Kirche St. Mangen. Der 61-jährige Bildhauer und Kunsttherapeut, der katholisch aufwuchs, nutzte die Zeit vom 12. bis zum 19. Juni, um zu zeichnen und sich mit seinem Glauben auseinanderzusetzen. 

Warum wollten Sie sich in die Wiborada-Zelle einschliessen lassen?

Meine Frau hat mich auf das Projekt «Wiborada2021» aufmerksam gemacht und danach hat mich die Idee nicht mehr losgelassen. Ich hatte schon Erfahrung mit Exerzitien und Meditation und ich war neugierig darauf, was es mit mir macht, auf so engem Raum eingesperrt zu sein. Wie fühle ich mich dabei, komme ich Gott in dieser Zeit wirklich näher und wenn ja, kann ich ihn vielleicht auf eine andere Art erspüren?

Konnten Sie sich auf diese spezielle Zeit vorbereiten?

In der Gruppe der zehn Teilnehmer*innen, die sich für das Experiment beworben hatten, trafen wir uns zuvor regelmässig, um alles Notwendige zu besprechen. Dabei überlegte sich jede*r eine individuelle Tagesstruktur für die Zeit in der Klause, damit wir nicht «luftlos» den Tag verbringen. Manchmal konnte ich diese aber nicht einhalten. An einigen Tagen habe ich einfach mehr Bewegung benötigt oder mir war mehr nach Singen, das war ganz unterschiedlich. Jeweils mittags und abends wurde das Fenster im Raum für je eine Stunde  geöffnet, damit Menschen von ausserhalb sich mit den jeweiligen  Inklus*innen austauschen konnten. Um auf bestimmte Anliegen, auf ihre Sorgen und Nöte angemessen reagieren zu können, haben wir im Vorfeld Gesprächssituationen in Form von Rollenspielen eingeübt. Es war gut, dass wir uns damit schon früh gedanklich auseinandersetzen konnten. Abgesehen davon habe ich aber nicht gewusst, was genau auf mich zukommt. 

Und wie haben Sie die Woche dann erlebt?

Sie war sehr intensiv, das hatte ich so nicht erwartet. Einerseits durch die Gespräche mit den Menschen am Fenster, aber auch durch meine persönliche Situation mit Gott. Dem konnte ich auch nicht ausweichen, weil die Zelle so klein war. Ganz wichtig war die Begleitung durch Hildegard Aepli, die das Projekt initiiert und als erste Inklusin daran teilgenommen hat. Jeden Morgen brachte sie mir frisches Wasser, einen Kaffee und ein Wiborada-Brot in die Zelle, das wir gemeinsam segneten. Das Mittagessen durfte ich jeweils dankbar von einer anderen Person am Fenster in Empfang nehmen.

Konnten Sie etwas in die Zelle mitnehmen?

Ich habe einen Gebetsteppich und ein Gebetskissen mitgenommen, zusätzlich Papier und Bleistift, damit ich die Zeit mit Zeichnen ausfüllen konnte. Die Zeichnungen, die ich in der Zelle anfertigte, hatten einen direkten Zusammenhang mit dem, was ich in dieser Woche in der Bibel gelesen habe, was die Menschen in dieser Zeit an mich herantrugen oder was mich persönlich beschäftigte. Alles war irgendwie miteinander verbunden: das Zeichnen, die Gespräche am Fenster und diejenigen mit Hildegard Aepli. 

Auf welche Weise haben Sie versucht, Ihren Tag zu strukturieren?

Bei mir stand jeder Tag unter einem bestimmten Thema. Mich beschäftigte beispielsweise die Ratlosigkeit von uns Menschen im Grossen wie im Kleinen. Natürlich hat mich die ganze Woche hindurch vor allem die Wiborada begleitet, das Thema Frauen in der Kirche und in der Welt und dass in Sachen Gleichberechtigung noch einiges passieren muss. Also habe ich einen Rat aus acht Frauen gezeichnet, die im Kreis stehen, miteinander reden und sich so für Gerechtigkeit einsetzen. In einer anderen Zeichnung hält die Wiborada ein aufgeschlagenes Buch in den Händen, während im Hintergrund das Fenster der Klause zu sehen ist. Für mich war sie eine Art Türwächterin des Projekts. Auch von der Bibel habe ich mich kreativ inspirieren lassen, durch Geschichten oder Sätze, die mir in dem Moment wichtig waren.

Wie viele Menschen kamen in Ihrer Woche mit welchen Fragestellungen am Fenster vorbei, um mit Ihnen in Kontakt zu treten?

Bei mir kamen nicht so viele wie bei den anderen Inklusen*innen die Wochen zuvor, dafür konnte ich jedoch sehr tiefe Gespräche führen. Einige nahmen an, ich sei ein ausgebildeter Seelsorger, das musste ich dann erstmal berichtigen. Für mich war es eine sehr ungewöhnliche Erfahrung, dass wildfremde Menschen an dieses Fenster herangetreten sind, die Fürbitten niederlegten und mir ihre teilweise sehr persönlichen Geschichten erzählt haben, über Verlust oder auch Missbrauchserfahrungen. Einige der Anliegen haben mich so bewegt, dass ich sie in mein Abendgebet miteinschloss. Es war eindrücklich, dass es so ein grosses Bedürfnis danach zu geben scheint, mit jemandem zu reden, der einfach da ist. So wie Gott immer da ist. Das Wissen darum, dass man von etwas getragen wird, war tröstlich. Auch das versuchte ich in einer Zeichnung festzuhalten, indem ich eine junge Frau mit einem Kind dargestellt habe. Ich stellte mir gedanklich vor, wie Gott das Kind wiegt, das sinnbildlich für uns Menschen steht und wie viele Menschen dieses Gefühl von Geborgenheit noch nie erfahren haben.

Hatten Sie auch erhellende Momente am Fenster?

Natürlich, nicht alles war bedrückend, es gab sehr viele lustige Begebenheiten. Es kamen auch nicht alle Menschen mit einer Frage zu mir, auf die sie sich eine Antwort erhofften. Der Austausch war einfach schön, aufeinander zu hören und einzugehen. Mit Freunden und Verwandten von mir, die mich ebenfalls am Fenster besuchten, habe ich einfach nur geplaudert. Das hat mich wiederum gestärkt. Eine Bekannte aus dem Chor hat mir eine Sonnenblume mitgebracht, die für mich ein Farbtupfer in der Zelle und ein Aufsteller für den Rest der Woche war. 

Gab es Momente, die Ihnen schwergefallen sind?

Ich muss sagen, ich bin eher der Bewegungstyp und gerne draussen in der Natur. Das hat mir ein wenig Sorgen bereitet. Doch während der Woche hat mir dann das Sonnenlicht fast noch mehr gefehlt als die Bewegung. In meiner Woche war es zudem noch sehr frisch in der Zelle, da sie an der Nordseite der Kirche, unter einer schattigen Tanne angebaut war, und das Wetter noch nicht auf sommerliche Temperaturen umgeschwenkt hatte. 

Konnten Sie nachempfinden, wie sich die Wiborada gefühlt haben muss?

Für mich ist es unvorstellbar, so etwas so lange zu überleben. Die Kälte im Winter, wenig Licht mit dem kleinen Fenster nach draussen. Über zehn Jahre keinen Sonnenstrahl auf der Haut zu spüren. Ich habe mir auch überlegt, wie die Hygiene damals war, wie kompliziert es gewesen sein muss, sich zu waschen und die Notdurft zu entrichten. Wir hatten auch nur einen Waschlappen und ein wenig Wasser. Man merkt erst in einer solchen Situation, was für ein Geschenk es ist, eine Dusche mit Warmwasser anstellen zu können. Ich bin in diesen Tagen achtsamer geworden. Am Anfang der Woche sah ich Rosenknospen, die noch geschlossen waren, als ich aus dem kleinen Fenster schaute. Am nächsten Morgen waren die Rosen offen und blühten. Es ist interessant, die Welt um sich herum einmal so aufmerksam wahrzunehmen. 

Was haben Sie in Bezug auf Ihren Glauben gelernt und mitnehmen können?

Dass Gott eine unversiegbare Quelle ist. Es gibt so viele Geschichten in der Bibel, die ich noch nicht kenne und ich hatte in der Zelle Zeit, mich einmal eingehender damit zu beschäftigen. Dabei sind auch Fragen entstanden, durch Bibelstellen, die ich nicht verstehe und mit denen ich mich dann bewusst auseinandergesetzt habe. Einen neuen Wert für mich haben die Psalmen bekommen. Was dort für ein Schatz verborgen ist, der die Generationen überdauert hat! Jede*r von uns durfte für den ersten Tag in der Zelle ein Brot mitnehmen. Am Morgen bevor ich eingeschlossen wurde, bin ich in die Dorfbäckerei gefahren und habe mich für ein Wurzelbrot entschieden. Das war für mich das Anfangsthema der Woche: mit meinen Wurzeln zurück an Gottes Quelle zu gelangen. 

Haben Sie zwischendurch das Gefühl von Einsamkeit verspürt?

Nein, ich habe mich nie alleine gefühlt und genau das hat mich erstaunt. Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der stets in Kontakt mit anderen steht und nicht gerne zu lange allein ist. Ich habe durch das Eingeschlossensein eine Freiheit erlebt, die ich sonst nicht habe. Ich hatte Zeit zum Zeichnen oder Beten. Einmal gab es in der Nacht aufgrund eines Rohrbruchs Bauarbeiten in unmittelbarer Nähe und es war unglaublich laut. Ich konnte zwar nicht schlafen, aber das hat mich nicht nervös gemacht, weil ich am nächsten Tag nicht zur Arbeit musste. Ich konnte einfach ausschlafen und meinen Tag nach meinen Vorstellungen gestalten.

Was ist Ihr Fazit aus dem Projekt? Was haben Sie für sich daraus mitgenommen?

Dass Gott mich begleitet und mein Urvertrauen in ihn wieder gestärkt wurde. Dass wir alle zusammenarbeiten müssen, Männer und Frauen gemeinsam, ob in der Politik, der Wirtschaft oder in der Kirche. Nur so gibt es Lösungen für die Zukunft. Jeder Mensch muss ernstgenommen werden, alles hat seine Berechtigung und sein Dasein. Das Wichtigste ist, dass man miteinander redet.  

Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 5.7.21
 


Das Wiborada-Projekt

Die St.Galler Seelsorgerin Hildegard Aepli entwickelte die Idee zu «Wiborada 2021» (forumKirche 9/2020). Das spirituelle Projekt sollte Menschen von heute die Möglichkeit geben, nachzuempfinden, wie sich das Leben als Inklusen*in anfühlt. Dafür wurde eine 5,3 auf 3,5 Meter grosse Zelle, innen und aussen aus Holz gefertigt, an die Aussenfassade der Kirche St. Mangen angebaut. Ein Bett, ein Toitoi-WC, ein Tisch und ein Stuhl hatten darin Platz. Mobiltelefone und Computer waren verboten. Während neun Wochen von April bis Anfang Juli wohnten insgesamt zehn katholische oder evangelische Teilnehmer*innen in der Klause.
Weitere Infos: www.wiborada2021.ch

Gabriel Krucker in der Zelle
Quelle: zVg
Gabriel Krucker in seiner Zelle beim Gebet. Der Aufsteller, die Sonnenblume ist ebenfalls im Bild.

 

 

Wiborada mit Buch
Quelle: zVg
Der Bildhauer und Kunsttherapeut fertigte in seiner Wiborada-Woche viele Zeichnungen an. Hier die Wiborada mit Buch vor dem Fenster.

 

 

Gabriel Krucker
Quelle: Sarah Stutte
Wieder in Freiheit im heimischen Garten in Bichwil.

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