Über die Zukunft und die Ausrichtung der Kirchen 

Immer mehr Menschen wenden sich von den christlichen Kirchen ab – Tendenz steigend. Damit verlieren diese auch an gesellschaftlicher Bedeutung. Doch was passiert, wenn es kaum noch christliche Gemeinden gibt? Was fehlt, wenn die Kirchen fehlen? Diesen Fragen soll in einer Gesprächsrunde am 5. Oktober nachgegangen werden, in die sich auch der Sozialethiker und politisch engagierte Theologe Franz Segbers einbringt. In einem Interview schildert er seine Vorstellungen. 

Wie wirkt sich der Mitgliederschwund der Kirchen in Europa auf deren gesellschaftliche Bedeutung aus?
Wir reagieren verkürzt darauf, wenn wir nur anfangen, über strukturelle Kirchenreformen zu reden. Das wird nicht ausreichen. Das ist eine reine Symptombehandlung.
Wir müssen uns klar werden, was wir den Menschen zu sagen haben. Es geht um den Kern der biblischen und jesuanischen Botschaft. Wenn Christen ihre Aufgaben nicht erfüllen, dann fehlt ihr Beitrag in der Gesellschaft. Wer tritt dann konsequent für das Recht der Armen ein? Wer tritt konsequent dafür ein, Konflikte - auch internationale kriegerische Konflikte - nicht mit Waffen zu beantworten, sondern mit der Macht der Gewaltlosigkeit. Da vermisse ich eine klare Stimme, die den Menschen eine Orientierung gibt. Die Kirchen haben eine prophetische und jesuanische Botschaft.

Was passiert mit unserer Gesellschaft, wenn es keine Institutionen mehr gibt, die explizit christliche Werte vertreten?
Was bieten die Kirchen an, was die Welt aufhorchen lässt? Was gibt Orientierung in unserer brennenden Welt und was gibt Hoffnung? Heinrich Böll hat einmal gesagt: «Die Kirchen treten wie keine andere Gruppe von Menschen dafür ein, dass Alte, Kranke, Schwache zu ihrem Recht kommen.» Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Starken, die Fitten und die Erfolgreichen das Sagen haben. Christen lernen durch die Bibel hingegen, eine Perspektive der Armen und Schwachen einzunehmen. Diese Perspektive würde ohne die Kirchen fehlen.
Heinrich Böll sagt, eine Welt ohne Christentum wäre für ihn ein Albtraum. Ich glaube in der Tat, dass es dabei um mehr geht als um karitative Einrichtungen. Es geht um die Grundhaltung der Barmherzigkeit - eine Barmherzigkeit, die sich nicht nur herablassend gegenüber den Armen verhält, sondern die für das Recht der Armen eintritt. Zudem sollten wir Christen uns für Gewaltlosigkeit und für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen. Das ist unsere Aufgabe. Wer sagt in unserer Gesellschaft noch, dass die Hungernden einmal satt werden? Wer, dass die Friedensstifter die Söhne und Töchter Gottes sein werden? Wer verspricht, dass die Leidenden nicht trostlos sein werden? 

Wäre es ein Verlust, wenn sich die Kirchen aus karitativen Bereichen zurückziehen müssten und staatliche Stellen deren Aufgaben übernehmen würden?
Wir leben in einem Sozialstaat, der – in der Schweiz wie in Deutschland - entscheidend durch die Impulse der Kirchen entstanden ist. Wenn der Staat die Arbeit der Kirchen übernimmt, gibt es noch genug für die Kirchen zu tun, um der Gerechtigkeit aufzuhelfen. Wer sind die Armen in unserer Stadt? Wie können sie zu ihrem Recht kommen?

Was bedeutet es für ein Dorf, wenn das Kirchengebäude einem anderen Zweck zugeführt wird?
Wir machen in Ostdeutschland, einer weitgehend entchristlichten Region, die Erfahrung, dass dort auch Nichtchristen bzw. Kirchenferne in ihren Dörfern darum kämpfen, dass die Kirchen erhalten bleiben. Die Kirche ist wohl auch das Herz eines Ortes. Kirchen sind vielfach die letzten zweckfreien Orte, an denen man einfach nur da sein kann. Ich kenne auch schöne Projekte, bei denen man einen Teil als zweckfreien Raum erhalten hat und im anderen Teil Wohnungen geschaffen hat. 

Wofür sollten Kirchen heute da sein, auch wenn sie kleiner werden?
Der vor 40 Jahren initiierte Konziliare Prozess stellte die Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in den Mittelpunkt. Dafür sollten die Kirchen da sein. Sie sollten Kirchen für andere sein. Dass unsere Gemeinden und Kirchen kleiner werden, sollten wir nicht nur als Schrumpfung beklagen, sondern als Chance annehmen. Bischof Gaillot hat gesagt: «Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.» Fragen wir also: Welche Kirche braucht unser Land, unsere Stadt, unsere Gemeinde, wo wir leben? 

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 26.09.2023


Der Themenabend findet am 5. Oktober, 19.30 Uhr, im Zentrum Franziskus in Weinfelden statt.

Prof. Dr. Franz Segbers
Quelle: von Stechow
Prof. Dr. Franz Segbers ist altkatholischer Theologe und engagierter Sozialethiker.

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