Eine psychologische Sicht auf das Beten

In allen Religionen ist das Gebet ein zentraler Bestandteil. Der Psychologe Burkhard Genser1 geht in einem Interview auf die Wirkung des Gebetes ein und zeigt auf, wie sich Therapie und Gebet ergänzen können. 

Warum beschäftigen Sie sich als Psychologe mit dem Gebet?
Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen. Meine Eltern waren tiefgläubig. Sie haben im Krieg und in der Nachkriegszeit die Hoffnung auf Gottes Hilfe nicht verloren. Das Gelassenheitsgebet: «Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden» beeindruckt mich bis heute.

Was halten Sie für die wichtigsten Punkte beim Gebet?
Beten heisst, mit Gott in Beziehung zu treten. Gott wird zum Gegenüber. Die betende Person richtet ihre Aufmerksamkeit, Gedanken und Gefühle auf Gott. Sie vergegenwärtigt sich ihre Lebenssituation, sucht dafür Worte und richtet diese an Gott. Oder sie spricht sich mit den Worten eines Psalms aus. Dann richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf Gott, um auf ihn zu hören. Hauptinhalte des Betens sind Klage, Bitte und Fürbitte sowie Dank und Lob.

Sie sagen, Beten werde auch als Kommunikation verstanden. Was meint dies genau?
Einzelne Theolog*innen sprechen beim Beten von «Dialog» und von der «Kommunikation Gottes». Sie betrachten Beten mit einem psychologischen Bezug.
Kommunikation besteht aus Ansprache und Antwort. Ich spreche eine Person an, diese nimmt meine Mitteilung auf und antwortet mir. Wenn ich bete, bin ich offen und erhoffe eine Antwort von Gott. Diese erlebe ich konkret in meinem Alltag – durch die Hilfe anderer Menschen oder durch Ereignisse, die ich als Gottes Wirken deute, z. B. Gesundung oder eine gute Ernte.

Was ist für Sie geglücktes Gebet, was könnten negative Folgen sein?
Betende erleben, dass ihr Beten positive Folgen hat: Sie fühlen sich in ihrer momentanen Situation als Person akzeptiert. Sie erfahren die Ermutigung, an ihren Problemen zu arbeiten und Hilfen zu suchen. Sie empfinden Sinnfindung und Dankbarkeit. Dies gibt auch das Zitat wieder: «Das Gebet ändert den Menschen und der Mensch ändert die Dinge.»
Belastend kann Beten werden, wenn Glaubenszweifel nicht aufgelöst werden, wenn eine erwartete Hilfe ausbleibt oder wenn die Person annimmt, sie glaube «nicht genug» oder habe nicht intensiv genug gebetet. Letzteres kann auch durch Vorhaltungen von Mitmenschen ausgelöst werden!

Kann Gebet heilend sein? In welchem Verhältnis stehen Gebet und Therapie?
Wenn Menschen sich von Gott angenommen fühlen, werden sie sich psychisch ausgeglichener fühlen. Bei Verlusterfahrungen kann Beten den Trauerprozess erleichtern, wenn wir den Schmerz ausdrücken oder wenn wir darin Gottes Willen erkennen.
Beten ist keine Therapie. Bei Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, z. B. an einer Depression oder Angststörung, ist in der Regel eine psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung angezeigt. Der gütige Vatergott wird – wie in der Bergpredigt verkündigt – das Annehmen dieser Hilfen unterstützen. Eine Zuweisung von Schuld oder Sündhaftigkeit kann sich sehr belastend auswirken.

Wie unterscheiden sich vorgegebene Gebete und das persönliche Gebet?
Im freien, persönlichen Gebet suchen Betende eigene Worte für ihre Lebenssituation. Vorgegebene Gebete wie Psalmen und das Vaterunser werden überwiegend gemeinsam gebetet. Im gemeinsamen Beten erleben die Betenden sich als Gemeinschaft, sie drücken ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde und ihre Identität aus. Vorgegebene Gebete können Anstösse für das eigene Leben geben.

Wie sollte man lernen zu beten?
Zum Beten braucht es Unterweisung und Vorbilder in der Familie und in der Gemeinde. Das Beten wird gehaltvoller, wenn man es übt.

Interview: Christiane Faschon, 29.03.2023


1 Dr. Burkhard Genser wohnt in Altnau. Er ist Diplom-Psychologe im Ruhestand und arbeitete fast 30 Jahre in einer psychiatrischen Klinik. Er ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder.

Burkhard Genser
Quelle: Christiane Faschon
Burkhard Genser sagt: «Bei Verlusterfahrungen kann Beten den Trauerprozess erleichtern.»

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